"Meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde?"

NEU-ISENBURG. Heute vor 50 Jahren starb in Berlin der Dichter und Arzt Gottfried Benn. Für Literaturwissenschaftler zählt Benn zu den größten Lyrikern der Moderne. Aber unter jungen Deutschen ist er wenig bekannt, wie Professor Friedrich Hofmann, Arbeitsmediziner und Schriftsteller, erfahren hat.

Von Friedrich Hofmann Veröffentlicht:

Als ich unlängst eine Vorlesung über Infektionsrisiken beim Pflegepersonal hielt, erwähnte ich, daß sich ein berühmter deutscher (Medizin-) Schriftsteller Anfang des 20. Jahrhunderts zuerst mit dem Thema beschäftigt habe. Ich ließ die Studenten raten. Ich hörte einige wenige Namen - und als ich dann Gottfried Benn als des Rätsels Lösung nannte, war es für einen Augenblick still: Keiner der Anwesenden schien mehr einen der bedeutendsten deutschen Lyriker des 20. Jahrhunderts zu kennen.

Gottfried Benn, am 2. Mai 1886 als Pfarrerssohn im brandenburgischen Mansfeld (heute zu Putlitz gehörend) geboren, macht früh als Arzt auf sich aufmerksam: Nach einem viersemestrigen Philosophie- und Theologiestudium hat er sich der Medizin zugewandt und 1910 sein Studium an der Berliner "Preußischen Militärakademie für ärztliches Bildungswesen" abgeschlossen.

1911 erhält er für eine Publikation zur Ätiologie der Pubertätsepilepsie den ersten Preis der Medizinischen Fakultät der Universität Berlin. Ein Jahr später erscheint seine Dissertation zur Häufigkeit des Diabetes mellitus im Heer. Seine militärische Arztkarriere endet zum ersten Mal 1912, als "sich bei einer Korpsübung, bei der ich den ganzen Tag im Sattel sitzen mußte, ein angeborener Schaden herausstellte, der mich sowohl feld- wie garnisonsdienstunfähig machte".

Nach einer Zwischenstation als Pathologe ist Benn 1914 als Schiffsarzt unterwegs, bevor er aufgrund des Kriegsausbruchs wieder ins Feld zieht und als Militärarzt in Brüssel tätig wird. Von November 1917 bis März 1935 ist er als niedergelassener Hautarzt tätig.

Kurze Beziehung zur 17 Jahre älteren Else Lasker-Schüler

Die Praxis in Berlin deckt Benns materielle Bedürfnisse, doch seine wirkliche Berufung sieht er in der Schriftstellerei: Schon 1912, während einer kurzen, intensiven Beziehung zu der 17 Jahre älteren Else Lasker-Schüler, ist sein erster Gedichtband "Morgue" erschienen, und ein Jahr später folgt eine weitere Sammlung mit dem Titel "Söhne".

Wie sehr der ärztliche Beruf Einfluß auf seine damalige lyrische Produktion nimmt, erkennt man in dem Gedicht "Der Arzt" , in dem es um den Menschen geht:

"Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch -: / geht doch mit anderen Tieren um! / mit 17 Jahren Filzläuse, / zwischen üblen Schnauzen hin und her, / Darmkrankheiten und Alimente, / Weiber und Infusorien, mit 40 fängt die Blase an zu laufen / meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde / von Sonne bis zum Mond -?"

Auch der Geburtshilfe ist ein naturalistisches Gedicht gewidmet:

"Pressen Sie, Frau! Verstehen Sie, ja? / Sie sind nicht zum Vergnügen da. / Ziehen Sie die Sache nicht in die Länge. / Kommt auch Kot bei dem Gedränge! / Sie sind nicht da, um auszuruhn. / Es kommt nicht von selbst. Sie müssen was tun!"

Benns Gedichte wurden verboten

Daß der militärischen Zensur solche Sätze nicht zusagen, liegt auf der Hand: Benns Gedichte werden verboten. Doch sein Schaffen erstreckt sich nicht nur auf das Schreiben von Gedichten und die Versorgung von Patienten mit Haut- und Geschlechtskrankheiten. Nach wie vor interessiert er sich auch für die medizinische Forschung.

1921 legt er den Grundstein für die Beschreibung arbeitsmedizinischer Probleme im Gesundheitsdienst. Während dieser Zeit reicht sein schriftstellerisches Schaffen bereits weit über die Lyrik hinaus: Es erscheinen die Novelle "Diesterweg" und das Drama "Der Vermessungsdirigent". 1931 folgt die Uraufführung des Oratoriums "Das Unaufhörliche", zu dem er den Text und Paul Hindemith die Musik schreibt.

Dann kommt Hitler an die Macht, und Gottfried Benn läßt sich für wenige Monate zur (weiteren) Mitarbeit in der nun von NS-feindlichen Mitgliedern gereinigten "Preußischen Akademie der Künste" überreden. Auch im Vorstand der "Union Nationaler Schriftsteller" wird er tätig.

Doch spätestens der Röhm-Putsch zeigt ihm, daß er einem großen Irrtum erlegen ist. Um aus dem Schußfeld zu geraten - 1938 wird das lange vorausgeahnte Schreibverbot erlassen -, läßt er sich reaktivieren und wird zunächst in Hannover, dann wieder in Berlin und schließlich bis zum Kriegsende in Landsberg an der Warthe als Militärarzt tätig.

Nach dem Krieg erhält Benn den Büchner-Preis

Bis 1953 ordiniert er noch einmal als niedergelassener Hautarzt - und gleichzeitig erlebt er nach der Veröffentlichung vieler Bücher (unter anderen der berühmten "Statischen Gedichte") eine Renaissance, die schließlich auch zu Ehrungen wie etwa dem Büchner-Preis führt.

Wenige Wochen nach seinem 70. Geburtstag stirbt Benn am 7. Juli 1956 nach kurzem (erst bei der Sektion als Malignom erkannten) Leiden.

Von Gottfried Benn sind dieses Jahr als Fischer-Taschenbücher erschienen: "Prosa und Autobiographie", "Gedichte" und "Altern als Problem für Künstler". Außerdem liegt eine neue Rowohlt-Monographie vor.

Professor Friedrich Hofmann ist Arbeitsmediziner, Epidemiologe, Infektiologe und Schriftsteller. Er ist Leiter der Abteilung für Arbeitsphysiologie, Arbeitsmedizin und Infektionsschutz an der Universität Wuppertal.



Benn und die Wissenschaft

"Die Ansteckung mit Syphilis in der Krankenpflege" heißt eine Arbeit, die Gottfried Benn im Juni 1921 publiziert. Darin heißt es unter anderem:

"Die Übertragung der Syphilis geht in den meisten Fällen durch den Geschlechtsverkehr vor sich, aber ihre Übertragung auf andere Weise ist nicht selten: 7 Prozent sind Fingerinfektionen und diese sind in ihrer Mehrzahl als gewerbliche Infektionen anzusprechen. Es hat sich nämlich ergeben, daß 2/3 aller Fingerinfektionen das ärztliche und Pflegepersonal betreffen." Und weiter: "...daß 0.4 Prozent der Hebammen sich im Beruf mit Syphilis infiziert."

In einer anderen Arbeit geht Benn kritisch bis ätzend mit der Wissenschaft um:

"Mir fällt es nämlich unendlich schwer, eine derartige, überhaupt noch eine wissenschaftliche Arbeit zu machen. Ich kann diese Syntax, diese ‚oder' und ‚denn' und ‚trotzdem' nicht mehr schreiben."

Schließlich heißt es in dem Beitrag weiter: "Ich glaube weder an Wissenschaft noch an Erkenntnis, in Sonderheit halte ich die Naturwissenschaften für Komparserie bei allen ernsteren Fragen, und zum Schluß glaube ich weder an Entwicklung noch an Fortschritt weder des Einzelnen noch der Gesamtheit." (FHV)

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