Hysterie und Wahnsinn in Leipzig

LEIPZIG. Robert Schumann, Friedrich Nietzsche, Christian Dietrich Grabbe: drei Künstler, deren Schicksal eng mit Leipzig verbunden ist. Über ihr Leben und ihre Krankheit erfährt man bei einem besonderen historischen Stadtrundgang, den das Sächsische Psychiatrie-Museum anbietet. Er führt zu Schauplätzen in Leipzig, an denen Psychiatriegeschichte geschrieben wurde.

Von Pete Smith Veröffentlicht:

Eine der ersten Stationen, die Museumsleiter Thomas Müller bei seiner Führung ansteuert, ist die ehemalige Praxis des Leipziger Nervenarztes Paul Julius Möbius (1853 bis 1907) in der Rosentalgasse 7. Zwar hat sich Möbius vor allem durch seine bedeutenden Arbeiten zur Hysterie Verdienste erworben - sein Name jedoch wird am häufigsten in Verbindung mit seinem umstrittensten Werk genannt: "Der physiologische Schwachsinn des Weibes" (1900). Hierin postuliert Möbius den Schwachsinn als arterhaltend und insofern als eine Zwangsläufigkeit der Evolution.

Moraltheologe sieht Verantwortung bei Patienten

Über dem Apothekenmuseum in Leipzig hatte sich 1865 der berühmte Abenteuer-Schriftsteller Karl May eingemietet. Fotos (2): Smith

Ein weiterer berühmter Psychiater der Stadt war Johann Christian August Heinroth (1773  bis 1843), der den weltweit ersten Lehrstuhl für "psychische Therapie" (heute Psychiatrie) innehatte. Ursprünglich wollte Heinroth Theologie studieren, was sich auch am moraltheologischen Ansatz seiner medizinischen Lehre manifestiert. Heinroth vertrat nämlich die Auffassung, dass Patienten selbst an ihrer psychischen Erkrankung schuld seien, da sie ihren Trieben zu viel Raum gelassen hätten.

Heinroths Lehre war zu seiner Zeit sehr einflussreich. Ohne ihn hätte es vielleicht auch das Urteil gegen Johann Christian Woyzeck nicht gegeben. Der Perückenmacher Woyzeck, berühmt geworden durch das gleichnamige Drama von Georg Büchner, hatte am 21. Juni 1821 aus Eifersucht seine Geliebte Johanna Woost erstochen. Drei Jahre lang stritten die Gutachter, ob Woyzeck bei seiner Tat zurechnungsfähig gewesen war oder nicht. Letztlich setzte sich die von Heinroth geprägte Auffassung durch, dass der Kranke für sein Handeln selbst verantwortlich sei. Am 27. August 1824 wurde der "Witwenmörder" auf dem Leipziger Marktplatz geköpft. Tausende von Bürgern wohnten der letzten öffentlichen Hinrichtung in Leipzig bei.

Über bemerkenswerte Fälle wie diesen diskutierten Universitätsprofessoren um den Psychiater Paul Emil Flechsig (1847 bis 1929) auf einem eigenen Stammtisch, der unter dem Namen "Leipziger Nervenkränzchen" bekannt wurde. Um 1880 trafen sie sich regelmäßig in "Baarmanns Restaurant" direkt am Markt. Dabei ging es auch um Flechsigs berühmtesten Patienten Daniel Paul Schreber, Sohn des durch seine Kleingartenphilosophie bekannt gewordenen Leipziger Arztes Dr. Moritz Schreber.

Jurist beschreibt seine Psychiatrie-Erfahrungen

Der Jurist Daniel Paul Schreber hat seine eigenen Psychiatrie-Erfahrungen in dem Buch "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" 1903 zusammengefasst, auf das sich wiederum Sigmund Freud für seine These stützte, der männlichen Paranoia liege ein homosexueller Konflikt zugrunde.

Nicht weit vom Marktplatz entfernt liegt das "Coffe Baum", ein Café in der Kleinen Fleischergasse 4, in dem der Komponist Robert Schumann (1810 bis 1856) verkehrte. Einen Steinwurf entfernt soll das Café Kintschy (Klostergasse 4) beheimatet gewesen sein, welches als Lieblingscafé des Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) gilt. Der Dramatiker Christian Dietrich Grabbe (1801 bis 1836) schließlich hat während seines Studiums gegenüber der berühmten Thomaskirche gewohnt. Alle drei Künstler sollen sich in Leipzig die Syphilis geholt haben und darüber irrsinnig geworden sein.

Als "verrückt" bezeichneten Ärzte auch den Winnetou-Schöpfer Karl May (1842 bis 1912), der sich 1865 gegenüber der Thomaskirche über dem heutigen Apothekenmuseum einmietete, in der Nähe einen Biberpelz kaufte, aber nie bezahlte. Wegen wiederholten Betrugs musste er vier Jahre ins Gefängnis.

Nietzsche auf der Suche nach Frauen

Thomas Müller weiß auch eine nette Anekdote über den großen Friedrich Nietzsche zu erzählen. Dessen Freund, der große Komponist Richard Wagner, habe einen Brief an Nietzsches Arzt geschrieben, in dem er diesen bat, auf den Philosophen einzuwirken, mehr Kontakte zu Frauen herzustellen. Denn die Ursache von Nietzsches Nervenkrankheit sei allzu häufiges Masturbieren…

Weitere Geschichten berühmter Patienten und mehr zur Geschichte der Psychiatrie in Leipzig erfahren Besucher im Sächsischen Psychiatriemuseum, an dessen Standort der historische Stadtrundgang endet. Diese Einrichtung ist eine Besondere. Denn hier arbeiten Profis wie Museumsleiter Thomas Müller mit Psychiatriebetroffenen Hand in Hand - eine beispielhafte Brücke zwischen Gestern und Heute.

Infos zum Stadtrundgang: Sächsisches Psychiatriemuseum, Mainzer Straße 7, 04109 Leipzig, Telefon 0341-1406140, E-Mail museum@durchblick-ev.de, Internet: www.psychiatriemuseum.de

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