Zwischen Tod und Trümmern - operieren wie in der Steinzeit

Amputationen mit der Taschenmessersäge, kein fließend Wasser und keine Lampen im Op-Saal - unter unvorstellbar primitiven Bedingungen leistete ein Team der Humedica-Hilfsorganisation katastrophenmedizinische Hilfe in den Trümmern von Port-au-Prince.

Von Ina Harloff Veröffentlicht:
Ein Nachbeben zwang Ärzte und Patienten vom Hospital Espoir, im Freien Schutz zu suchen. © Domres

Ein Nachbeben zwang Ärzte und Patienten vom Hospital Espoir, im Freien Schutz zu suchen. © Domres

© Domres

Als der Unfallchirurg Professor Bernd Dieter Domres mit dem ersten Team von Humedica am 16. Januar in Port-au-Prince eintrifft, hat er sich darauf eingestellt, medizinische Grundversorgung für die Obdachlosen und Betroffenen zu leisten. Stattdessen landet er in der "Steinzeit". So beschreibt der 71-jährige Arzt seine ersten Tage in der verwüsteten Hauptstadt von Haiti. "Steinzeit, weil wir Knochenbrüche mit Steinen ziehen mussten", berichtet Domres der "Ärzte Zeitung" am Telefon. Er sitzt im Zug nach Tübingen, ist gerade erst aus Haiti zurückgekommen - erschöpft und müde.

Aber dennoch will er erzählen. Von den primitiven Rahmenbedingungen, unter denen die medizinische Notversorgung erfolgen musste. Von dem Gestank der Leichen und Infizierten. Das war für ihn das Schlimmste. "Am ersten Tag operiert man, was stinkt", sagt Domres. Eine nüchterne Feststellung, die jedoch das Grauen dahinter erahnen lässt. Erzählen will er aber auch von den Freundschaften, die er geschlossen hat in dieser Ausnahmesituation. Freundschaften mit den Mitarbeitern seines Teams, Freundschaften mit den Patienten.

"Mon Ami" starb an einer Lungenembolie

Im Hospital Espoir Haiti, dem Krankenhaus der Hoffnung, versorgt das Humedica-Team in den ersten sechs Tagen 313 ambulante und 121 stationäre Patienten. Domres besteht darauf, dass auch die Namen der anderen fünf Humedica-Mitarbeiter genannt werden: Irmgard Harms, Dr. Ulrich Seemann, Dr. Markus Hohlweck, Dr. Stefan Rodi und Simon Oeckenpoehler. "Die haben Großes geleistet", betont er. Ohne den extrem guten Zusammenhalt in seinem Team, da ist er sich sicher, wäre die ohnehin belastende Arbeit noch schwieriger geworden.

Brüche müssen auf primitivste Weise versorgt werden. © Domres

Brüche müssen auf primitivste Weise versorgt werden. © Domres

© Domres

Bis zur Ankunft des Humedica-Teams stand das Hospital Espoir leer. Es fehlte sowohl an medizinischem Personal als auch an den entsprechenden Materialien. "Über Rundfunk wurde durchgegeben, dass das Krankenhaus jetzt wieder in Betrieb ist", erzählt Domres. "Als uns dort das Tor geöffnet wurde, kamen wir nicht mal mehr dazu, unsere Rucksäcke abzustellen, da ging es schon los."

Viele der Verletzten, die in das Krankenhaus gebracht werden, haben zusätzlich zu ihren Frakturen und Infektionen das sogenannte Compartment-Syndrom, eine typische Erdbebenverletzung. "Wenn Lasten auf einem Verschütteten liegen, wird die Muskulatur gedrückt. Wenn das längere Zeit so bleibt, reagiert die Muskulatur mit einem Ödem, einer Wassereinlagerung. Dadurch wiederum steigt der Druck im Compartment.

Das kann letzten Endes dazu führen, dass der Muskel abstirbt. Gleichzeitig kommen Bakterien in die Wunden der toten Muskulatur. Wenn man die Leute aus den Trümmern holt, werden die Körperteile, auf denen die Lasten lagen, wieder besser durchblutet. Dadurch gerät das tote Muskeleiweiß über die Venen in die Nieren und kann zum Nierenversagen führen. Das ist dann das Crush-Syndrom, auch eine typische Erdbebenverletzung", erklärt der Spezialist für Katastrophenmedizin. Deshalb hätte bei den Betroffenen eine Dialyse gemacht werden müssen. "Aber das war gar nicht möglich", sagt Domres und seiner Stimme ist anzumerken, wie sehr ihm das immer noch zu schaffen macht. Die Verletzten können zunächst nur mit den primitivsten Mitteln versorgt werden. Menschen mit Knochenbrüchen, die gezogen werden müssen, werden mit improvisierten Zugverbänden aus Klebeverbänden und Schnur behandelt. Als Gewichte zum Ziehen dienen Steine. Bereits am zweiten Tag müssen die Ärzte amputieren. Auch hierfür fehlt das notwendige chirurgische Werkzeug. Der Medizinstudent Simon Oeckenpoehler hat ein Taschenmesser mit Säge dabei. Zwei Amputationen werden damit vorgenommen. Es gibt kein fließendes Wasser und keine Lampen im Operationssaal. Mit Stirnlampen muss das Op-Feld ausgeleuchtet werden. Duschen gibt es zunächst auch nicht. Kein Wasser, um den Gestank wegzuwaschen.

Dann kommt ein Nachbeben. Die Patienten müssen alle ins Freie gebracht werden, samt ihrer Streckverbände. Operieren können die Ärzte an diesem Tag nicht. Ein junger Mann wird eingeliefert. Sein Oberschenkelknochen schaut durch eine Wunde in der Kniekehle heraus. Auch er hat das Compartment-Syndrom. "Ich hatte mich mit diesem jungen Mann angefreundet", erzählt Domres mit bewegter Stimme. Er hat ihn "Mon Ami" genannt. Sein Freund war gerade 35 Jahre alt. Als er endlich operiert werden kann, übersteht er die Op gut. Wenig später stirbt er an einer Lungenembolie. Aber es gibt auch Hoffnung im Hospital Espoir. Da ist das Kind, das mit Oberschenkelbruch und Schädel-Hirn-Trauma eingeliefert wird. Die Ärzte geben ihm kaum eine Chance. Aber das Kind wird sofort behandelt und überlebt. In den ersten Tagen werden über hundert Leben im Krankenhaus der Hoffnung gerettet. Nur fünf Patienten sterben. Aber jeder einzelne Todesfall geht zu Herzen. "Trotz der kurzen Zeit und trotz dieser Massen hatten wir ein persönliches Verhältnis zu den Patienten", sagt Domres.

Am Ende zählen die Leben, die gerettet werden konnten

Auf dem Krankenhaus weht jetzt eine deutsche Fahne und die Menschen nennen es "Deutsches Krankenhaus der Hoffnung". Man merkt Domres Stimme an, dass ihn das auch ein wenig stolz macht. "Was am Ende überwiegt, ist der Gedanke daran, dass man so viel erreichen konnte", sagt er. Vielleicht überwiegt das auch die Erinnerung an den furchtbaren Gestank. Domres möchte jetzt am liebsten zwei Tage in ein Wellness-Hotel fahren: den Gestank wegspülen. Und die Seele frei waschen.

Zur Person

Professor Bernd Dieter Domres. © Humedica

Professor Bernd Dieter Domres. © Humedica

© Humedica

Der Chirurg und Unfallchirurg Professor Bernd Dieter Domres (71) lehrt am Deutschen Institut für Katastrophenmedizin in Tübingen. Das Institut kooperiert mit der Hilfsorganisation Humedica, die in 30 Jahren bereits in über 90 Ländern medizinische Not- und Katastrophenhilfe geleistet hat. Mit Humedica hatDomres in vielen Einsätzen katastrophenmedizinische Hilfe geleistet. Am Mittwoch kam er nach knapp zwei Wochen aus Haiti zurück.

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