Philosophische Diskussion

Verlieren Demenzkranke ihre Persönlichkeit?

Unter Philosophen gibt es eine rege Diskussion, ob Menschen mit Demenz die Persönlichkeit abhanden kommt und sie daher nicht mehr als "Person" betrachtet werden können.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Angehörige sollten bei Menschen mit Demenz stärker die emotionale Kontaktebene aktivieren.

Angehörige sollten bei Menschen mit Demenz stärker die emotionale Kontaktebene aktivieren.

© Getty Images/iStockphoto

FRANKFURT/MAIN. Menschen mit Demenz "büßen ihr Selbst ein", "lösen sich auf", "verlieren ihre Identität, ihre Persönlichkeit". Umschreibungen wie jene, von Laien ebenso geäußert wie von Experten, legen nahe, dass sich der Mensch mit dem Verlust seines Gedächtnisses abhanden kommt.

Die aus der philosophischen Tradition abgeleitete Verknüpfung des Personenbegriffs mit Rationalität und Geist wird jedoch zunehmend in Frage gestellt - auch oder gerade im Hinblick auf demenzkranke Menschen.

Der Heidelberger Philosoph und Psychiater Professor Thomas Fuchs setzt der traditionellen Anschauung das Konzept der Leibphänomenologie entgegen, nach dem jedes Erleben auch einen Eindruck in unserem Körper hinterlässt, der auch mit dem fortschreitenden Verlust unseres Gedächtnisses existent bleibt.

Würde und Selbstbestimmung

"Die Freiheit der Person ist unverletzlich", heißt es in Artikel 2 des Grundgesetzes. Was ist unter einer Person zu verstehen?

Der englische Empirist John Locke (1632-1704) beispielsweise definierte eine Person als ein "denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegungen besitzt und sich selbst betrachten kann".

Nach Immanuel Kant gründet unsere Würde als Person auf der uns eigenen Vernunft, die uns zur Selbstbestimmung fähig macht.

Daraus leitet Kant seinen kategorischen Imperativ ab: "Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst."

Kants Selbstzweckformel wiederum bildet die Grundlage für das im Grundgesetz verankerte Recht, von anderen Menschen oder staatlichen Institutionen nicht als Objekt herabgewürdigt werden zu dürfen.

Ist Körper und Geist zu trennen?

Vor allem Kants Unterscheidung zwischen dem Vernunftwesen Mensch, der zu moralischem Handeln fähig ist, und den Naturwesen, die Sachen gleichzustellen sind, wird oft herangezogen, wenn es darum geht, Geisteskranken oder Demenzkranken das Personsein abzusprechen.

Für den US-Philosophen Jeff McMahan von der Rutgers Universität in New Brunswick sind schwer Demenzkranke nur noch "Post-Personen", und der australische Philosoph Peter Singer nennt sie "ehemalige Personen", woraus Singer ableitet, dass Demenzkranke nicht denselben Anspruch auf Leben haben wie eine (geistig gesunde) Person.

Thomas Fuchs, Leiter der Sektion Phänomenologische Psychopathologie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Uniklinik Heidelberg, wendet sich strikt dagegen, den Personen-Begriff allein an die Geistigkeit zu binden und so Körper und Geist zu trennen.

"Das Geistige - Rationalität, Selbstbewusstsein, Autonomie - ist etwas, das selbst eine Funktion, eine Fähigkeit ist, die auf dem primär leiblich Lebendigen aufbaut", sagt Fuchs der "Ärzte Zeitung".

"Genauso wie wir, wenn wir gehen können, nicht immer gehen, sondern manchmal liegen oder schlafen und die Beine dann ruhen, genauso müssen die geistigen Funktionen, das Selbstbewusstsein und die Reflexionsfähigkeit keineswegs immer aktiviert sein. Trotzdem heißt die Einheit des Lebewesens Mensch, die ihre Fähigkeit aktivieren kann, zu Recht Person."

Leiblichkeit bedenken

Fuchs hält jenen, die die Person an Vernunft und Rationalität binden, sein Konzept der Leibphänomenologie entgegen.

"Die Leibphänomenologie geht davon aus, dass wir als Personen, als Subjekte immer und in erster Linie leibliche Wesen sind, dass wir nicht nur einen Körper benutzen, was ja selbstverständlich ist, weil wir keine reinen Geistwesen sind, sondern dass wir in allem, was wir tun, erleben, denken, fühlen, in unserer Leiblichkeit eingesenkt sind", erläutert der Heidelberger Psychiater und Philosoph.

Wenn man die vielfältigen Leibempfindungen mitberücksichtige, gewinne der Wertbereich des Erlebens eine viel größere Bedeutung, das gelte auch im zwischenmenschlichen Miteinander.

"Gerade weil Demenzkranke im kognitiven Bereich solche Schwierigkeiten und Schwächen haben, reagieren sie besonders sensibel auf der emotionalen Kontaktebene. Sie reagieren auch mit ihrem leiblichen Gedächtnis, mit den ganzen gespeicherten leiblichen Erfahrungen, die man im Lauf eines Lebens gemacht hat, auf vertraute Melodien, vertraute Geschmacks- und Geruchsempfindungen, vertraute Kontakte, vertraute Berührungen."

Für die Angehörigen berge diese Erkenntnis enorme Möglichkeiten, da sie sich dem Patienten auf vielfältige Weise neu nähern könnten.

Kränkende Wortwahl?

Studien belegen, dass es neben dem kognitiven Gedächtnis tatsächlich ein Leibgedächtnis gibt, das sich in der Therapie von Demenzkranken aktivieren lässt.

So haben Alexander Rösler von der Abteilung Neurologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Kollegen aus Freiburg und Basel schon vor zehn Jahren in einer Studie mit Alzheimer-Patienten nachgewiesen, dass Demenzkranke beim (Walzer-)Tanzen durchaus neue Bewegungsmuster einstudieren und abspeichern können und das bereits mittels weniger Tanzstunden ("International Journal of Geriatric Psychiatry" 2002, 17, 1155).

Jene Begrifflichkeit, die im Hinblick auf einen demenzkranken Menschen vom Auflösen des Selbst oder dem Verlust der Identität spricht, hält Thomas Fuchs nicht bloß für fragwürdig.

"Ich empfinde das geradezu als kränkend. Für den Patienten, aber auch für einen selbst. Denn wenn ich das so formuliere, dann bedeutet das auch, dass die Empfindungen, die ich dem Menschen gegenüber habe, eigentlich nicht mehr gerechtfertigt sind. Die sind dann illusionär."

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