Der Fall Natascha Kampusch

"Das Immunsystem der Seele"

Heute läuft der Kino-Film "3096 Tage" über die Gefangenschaft von Natascha Kampusch an. Im Interview spricht Psychotherapeutin Gertrud Corman-Bergau über Verletzungen der Seele - und wie Menschen ihr "psychisches Überleben" sichern können.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Natascha Kampusch bei der Premiere von "3096 Tage". In dem Film wird sie von Schauspielern dargestellt.

Natascha Kampusch bei der Premiere von "3096 Tage". In dem Film wird sie von Schauspielern dargestellt.

© Neubauer/dpa

Ärzte Zeitung: Ein Film über die tatsächlich geschehene Gefangenschaft einer jungen Frau wie Natascha Kampusch -  gehört das in die Öffentlichkeit?

Gertrud Corman-Bergau: Darüber will ich nicht urteilen. Aber so ein menschliches Leiden löst eben im Betrachter etwas aus und stößt deshalb auf größtes öffentliches Interesse.

Wer den Film sieht, fragt sich unwillkürlich: Wie wäre es mir ergangen? Was hätte ich getan? Dieser innere Abgleich ist zutiefst menschlich.

Kann ihr Verhalten ein Vorbild sein?

Wie es Frau Kampusch geht, kann ich nicht sagen. Aber Menschen haben ein großes Bedürfnis nach Beispielen, so ein Martyrium gut zu überstehen. Frau Kampusch erscheint als eine, die ihre furchtbaren Erlebnisse sehr gut verarbeitet hat.

Gertrud Corman-Bergau

Seit 2010 Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen

Werdegang: Studium in Marburg, Diplom in Psychologie 1978

Tätigkeiten: Psychologische Psychotherapeutin; eigene Praxis in Hannover; Lehranalytikerin, Dozentin und Supervisorin am Lehrinstitut für Psychoanalyse und Psychotherapie Hannover und am IPAW der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)

Das heißt allerdings nicht, dass es später nicht noch Wirkung zeigen könnte. Ob und wie Traumata schädigen, ist bei Menschen auch ganz unterschiedlich ausgeprägt, bearbeitete Erlebnisse können sogar zu einer Stärkung führen.

Was ist ein Trauma?

Ganz nüchtern gesagt: eine Verletzung, die schädigende Wirkung zeigt. Wir unterscheiden einzelne Ereignisse, wie einen Unfall, als Trauma und immer wiederkehrende Traumatisierungen, zum Beispiel wiederkehrende Schläge oder schlimme Vernachlässigung.

Im strengen Sinn liegt ein Trauma nur dann vor, wenn das Erlebnis mit Todesangst oder extremer Hilflosigkeit einher geht und unvorbereitet eintritt.

Wie kann man Traumata verarbeiten?

Das Geschehen ist in der Seele gespeichert und kommt in so genannten "Flash backs" wieder zum Vorschein. Für die Patienten geht es dann darum, die Kontrolle wiederzugewinnen. Das heißt, sie lernen, die Bilder des Traumas zusammenzuführen mit den erlebten Affekten, den Gefühlen.

Viele Menschen bearbeiten ein Trauma zunächst dadurch, dass sie beides trennen, um das Entsetzen nicht zu sehr an sich heran kommen zu lassen. Das ist eine natürliche Schutzfunktion. Die Abspaltung schützt. Bis zu einer Integration kann es ein langer Prozess sein. Nach und nach muss das Ich die Dosierung der Gefühle mitbestimmen lernen.

Der Patient muss im Falle einer Wiederkehr der schrecklichen Erinnerungen lernen, sich sagen zu können: 'Nicht mehr davon!‘ Es geht darum die Steuerung zurückzugewinnen, eben das, was der Betroffene bei der Traumatisierung nicht hatte.

Frau Kampusch wirkt ja sehr gefasst. Hat sie die Bilder und Affekte noch nicht zusammengefügt?

Vielleicht rührt diese Gefasstheit auch von der Situation her, in der Frau Kampusch im Fernsehen berichtet. Vielleicht ist die Gefasstheit auch eine Reaktion auf die mediale Situation.

Sicher kann eine solche Spaltung auch der Verarbeitung dienen. Vielleicht darf man diese Hypothese wagen, dass die Gabe von Frau Kampusch, den Intellekt von den Affekten zu trennen, sie gerettet und ihr das psychische Überleben gesichert hat.

Warum gelingt dies manchen und andern nicht?

Sie sprechen das Thema der Resilienz an, die Fähigkeit von Menschen schmerzliche Ereignisse zu bearbeiten oder diesen zu widerstehen. So wie der Körper ein Immunsystem hat, so hat die Seele auch eines.

Der Film "3096 Tage"

Regisseurin Sherry Hormann sagt über ihren Film: "Es ist eine Heldengeschichte".

2010 führte das Buch "3096 Tage", in dem Natascha Kampusch ihr Schicksal schilderte, monatelang die Bestsellerlisten an.

Kampuschs Schicksal wird in Österreich seit Jahren lebhaft diskutiert, Sympathie und Hass schlagen ihr entgegen. Vor allem wird ihr Drang in die Öffentlichkeit kritisiert.

Natascha Kampusch wurde am 2. März 1998 entführt und konnte am 23. August 2006 fliehen.

Man kann sagen, dass integrierte Beziehungsstrukturen eine Rolle spielen, also ob und welche guten Beziehungen der Betroffene im Laufe seines Lebens erfahren hat. Hier geht es um Vertrauen in Menschen überhaupt.

Auch wenn man Menschen in einer vertrauensvollen Beziehung zueinander erlebt hat, stärkt das im Falle von schlimmen Ereignissen die Resilienz. Auch spielt die Veranlagung mit hinein.

Natascha Kampusch hat solche Beziehungen selber hergestellt und hat sich ihrem Verlies zum Beispiel mit Kleiderpuppen unterhalten.

Wer in eine solche Lage kommt, wird versuchen, die extreme Hilflosigkeit durch eigenen Gedanken und Gefühle zu füllen. Denn nur mit Angst oder gar Todesängsten ist ein psychisches Überleben nicht zu sichern. Da baut man sich zum Beispiel in der Fantasie einen Raum, in dem Gutes sein kann.

Wenn man an keine innere Möglichkeit des Lebens und des Liebens glauben kann, ist es sehr schwer, zu überleben. Nehmen Sie Jan Philipp Reemtsma. Er war 1996 einen Monat lang in den Händen von Entführern.

In seinem Buch über diese 33 Tage hat er beobachtet, wie er mit den Entführern umgeht, welche Gefühle er ihnen entgegen bringt. Er hat seine inneren Kräfte aktiviert. Das hat ihm geholfen.

Es geht also darum, sich positive Gefühle zu erhalten. Man kann auch Musik lieben oder Puppen oder irgendetwas. Man kann sogar einen Menschen trotz aller seiner Scheußlichkeiten lieben. Diese Fähigkeit scheint auch Frau Kampusch geholfen zu haben, ihr Verlies zu überstehen.

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