Nach dem Hochwasser in Sachsen-Anhalt

Auf Hausbesuch mit dem Unimog

Das Elbwasser überdeckt noch große Teile Sachsen-Anhalts: Viele Anwohner, Arztpraxen und Pflegeheime wurden evakuiert. Wer bleibt, ist von der Versorgung nahezu abgeschnitten. Doch Hausarzt Dr. Karsten Gilbrich lässt sich auf dem Weg zu seinen Patienten von den Wassermassen nicht aufhalten.

Von Marco Hübner Veröffentlicht:
Bei Wust ist ein LKW umgekippt. Bundeswehrsoldaten prüfen die Straßen, auf denen Hausarzt Gilbrich zu seinen Patienten gelangen soll.

Bei Wust ist ein LKW umgekippt. Bundeswehrsoldaten prüfen die Straßen, auf denen Hausarzt Gilbrich zu seinen Patienten gelangen soll.

© Hübner

KLIETZ. Das bräunliche Elbwasser peitscht hoch über das Dach des Lastwagens hinweg. Es ist ein Unimog - ein spezielles Gefährt für den Einsatz in unwägbarem Gelände.

Hektik bricht im Inneren des Wagens aus: Die Insassen schließen eilig die kleinen Fenster im hinteren Teil des Sanitätswagens. Denn von den Medikamenten und Verbandsmaterialien, die transportiert werden, darf nichts nass werden.

Das Wasser steht etwa einen Meter hoch auf der Straße. Die Sicht ist schlecht: Selbst mit den Scheibenwischern auf Hochtouren ist die Straße kaum zu erkennen.

Auf Visite in Geisterdörfern

Ärzte in Sachsen-Anhalt bahnen sich ihre Wege zu den Patienten - notfalls per Unimog.

Ärzte in Sachsen-Anhalt bahnen sich ihre Wege zu den Patienten - notfalls per Unimog.

© Hübner

Der Unimog bahnt sich seinen Weg bis zum nächsten Ortseingang. Hier sind die Straßen wieder frei. Der Blick des Allgemeinarztes Dr. Karsten Gilbrich fällt auf das Ortsschild: Schönhausen.

Wie es den Bewohnern geht, lässt sich vor der Ankunft nie so genau voraussagen. Gilbrich ist aber so gut wie möglich vorbereitet. Was der in Klietz niedergelassene Hausarzt gerade erlebt, ist kein Abenteuerurlaub.

Es ist Teil seines Arbeitsalltags, seit das Hochwasser der Elbe nach dem Deichbruch bei Fischbeck tief in den Landkreis Stendal im nördlichen Sachsen-Anhalt vorgedrungen ist.

Als klar wurde, dass er die Patienten für längere Zeit nicht mehr mit dem Praxismobil erreichen kann, war guter Rat teuer. Kurzerhand bat er daher die Bundeswehr um Hilfe.

Die unterstützte den Hausarzt, mit einem robusten Unimog Sanitätsfahrzeug, das bis zu einer Wassertiefe von 1,3 Metern durch die überfluteten Gebiete fahren kann.

Süßlich und faulig zugleich riecht die vom Elbwasser geschwängerte Luft, als der Arzt um neun Uhr auf den Beifahrersitz des Unimogs in Klietz steigt. Ziel sind wie in den letzten Tagen die umliegenden Dörfer, die teilweise noch von der Außenwelt abgeschnitten sind.

Auf der Fahrt über Land zeigt sich ein gespenstisches Bild: Alles scheint wie ausgestorben.

Arzt und Berichterstatter

Bei Wust ist ein LKW von der Straße abgekommen und liegt im Hochwasser auf der Seite. Fahrräder wurden zurückgelassen, lehnen unabgeschlossen an Laternen.

Vereinzelt sind Menschen zu sehen, doch sie gehören meist zur Feuerwehr, zum Technischen Hilfswerk, zur Bundeswehr, oder es sind Journalisten.

Die Einwohner sind evakuiert, nur einzelne sind in ihren Häusern geblieben. Gerade sie lächeln erleichtert und winken, wenn sie ihren Arzt im unkonventionellen Gefährt entdecken.

Zum Stehen kommt der Wagen am zentralen Punkt im jeweiligen Ort, an dem sich oft Dorfgemeindezentren befinden.

Dort ist Gilbrich zurzeit nicht nur Ansprechpartner für Medizinisches. So abgeschnitten von der Außenwelt ist er auch Berichterstatter: Seine Patienten fragen, wie es in anderen Dörfern aussehe und ob die Straßen wieder befahrbar seien.

Außerdem muss er den abgekämpften Menschen viel Mut zusprechen. Langsam findet die Gemeinde aber wieder zurück in mehr Normalität: "Morgen kann ich vielleicht schon wieder mit dem eigenen Wagen kommen", sagt er und reicht einer Patientin eine kleine Tüte mit Medikamenten.

Notversorgung bei Kerzenlicht

Aber auch nach der Abfahrt bleibt er für seine Patienten immer ansprechbar. Bevor Gilbrich wieder einsteigt, ruft er: "Wenn was ist, sagen Sie einfach Bescheid." Zu Ende ist seine Reise noch lange nicht: circa 100 Kilometer legt er am Tag im Unimog zurück.

Gilbrich arbeitet fast rund um die Uhr und das unter erschwerten Bedingungen: Ein Patient hatte sich wohl beim Sandschaufeln für den Schutz der Deiche gegen die Flut übernommen. Mit Verdacht auf Herzinfarkt musste er bei Kerzenlicht für den Transport in die Klinik stabilisiert werden.

Weil die Elbbrücke bei Tangermünde noch gesperrt ist, kommt der zuständige Rettungswagen aus Stendal nicht zum Einsatzort. Daher sind Ärzte aus einem Nachbarort eingesprungen.

"Wir sind ihnen im Dunklen voraus gefahren, da wir die Wege kennen und einschätzen können, wo ein Durchkommen noch möglich ist", erklärt Gilbrich.

Um elf Uhr ist seine Visite für heute beendet. Der Arzt erreicht wieder seine Praxis in Klietz. Seit der Pegel der Elbe stabil und auch der Strom wieder da ist, hat er sie wieder für Patienten geöffnet.

Da viele Dörfer noch durch das Wasser von der Arztpraxis abgeschnitten sind, ist aber viel weniger Betrieb als gewöhnlich.

Die Umstände der letzten Tage sind dem Arzt anzusehen. Er atmet tief ein. Beide Arme auf den Tisch gestützt. Hin und wieder reibt er sich mit der flachen Hand die Augen, dabei erzählt er: "Meine eigene Praxis ist nur marginal betroffen. Der Parkplatz wurde überspült, aber zu den Räumen hat nur ein halber Meter gefehlt."

"Nerven der Leute liegen blank"

An den zurückliegenden Wochenenden hat er selbst Sandsäcke geschleppt. Nachts musste er immer damit rechnen, aus seinem Wohnhaus in Klietz evakuiert zu werden.

Bei der Behandlung der Patienten nimmt er sich, ungeachtet dessen, selbst vollkommen zurück: "Die Nerven der Leute liegen blank, viele haben ihren Besitz verloren und sind gereizt", sagt Gilbrich. Daher müsse er vor der Behandlung psychologischen Beistand leisten und viel beruhigen.

Viel Hoffnung auf Erholung gibt es nach dem Hochwasser für den Hausarzt nicht. An einen normalen Praxisalltag ist noch lange nicht zu denken.

"Die Post ist auch ausgefallen, wir haben eine Badewanne voll mit Briefen abzuarbeiten, wenn alles wieder seinen Gang geht", sagt Gilbrich.

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