Auschwitz-Prozess vor genau 50 Jahren

Ärzte auf der Anklagebank

Auschwitz ist ein Symbol für die Schreckensdiktatur der Nationalsozialisten: Verfolgung, Vergasung - und Verschleierung des Massenmords. Auch Ärzte zählten zu den Tätern. Heute vor genau 50 Jahren kommt es deswegen zum Prozess - doch kaum einer will es gewesen sein.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Verhandlungstag im Frankfurter Rathaus 1963: Die 22 Angeklagten (r.) wurden von Polizisten begleitet.

Verhandlungstag im Frankfurter Rathaus 1963: Die 22 Angeklagten (r.) wurden von Polizisten begleitet.

© United Archives / imago

An einem dunklen, eisigen Freitagmorgen des Jahres 1963, vier Tage vor Heiligabend, warten vor dem Frankfurter Römer Hunderte Menschen darauf, dass sich endlich die Tore des Rathauses öffnen.

Die meisten harren schon seit Stunden aus, viele sind von weither angereist, um an diesem historischen Tag hier zu sein. Um Viertel nach acht ist es so weit.

Ordner geleiten die Menschen zum Plenarsaal der Stadtverordnetenversammlung. Die Fotografen schießen Bilder, die Zuschauer nehmen auf der Empore Platz.

An drei Seiten des festlichen Saals hängen lange, mit Adlerwappen verzierte Vorhänge an den Wänden. Ein würdevoller Rahmen zum Auftakt eines denkwürdigen Prozesses, dem größten der deutschen Nachkriegsgeschichte, der als Auschwitzprozess in die Geschichte eingehen wird.

Strafsache gegen Mulka und andere

Die Jupiterlampen der Fernsehleute tauchen die Kulisse in gleißendes Licht. Kameras surren. Immer wieder zucken Blitze durch den Saal.

An der Frontseite stehen drei große Schautafeln, Rekonstruktionen der Lageranstalten und eine Umgebungskarte von Auschwitz.

Von je zwei Polizisten flankiert werden die neun inhaftierten Angeklagten hereingeführt. Einige verdecken ihre Gesichter, andere sehen sich neugierig um.

Zwölf weitere Beschuldigte, die sich nach Zahlung einer Kaution auf freiem Fuß befinden, sitzen bereits auf den dunkelblauen Polstersesseln gegenüber der Richterbank, neben ihren Verteidigern.

Auch die vier Staatsanwälte und drei Anwälte der Nebenkläger haben schon Platz genommen.

Als die Richter, Beisitzer und Geschworenen den Saal betreten, wird es still. Alle erheben sich. Punkt halb neun ruft der Vorsitzende Richter, Landgerichtsdirektor Hans Hofmeyer, die "Strafsache gegen Mulka und andere, 4 Ks 2/63" auf.

Wegen Mordes und Beihilfe zum Mord angeklagt

SS-Oberscharführer Josef Klehr (v.r.) gesteht im Laufe des Prozesses, Hunderte KZ-Insassen zu Tode gespritzt zu haben.

SS-Oberscharführer Josef Klehr (v.r.) gesteht im Laufe des Prozesses, Hunderte KZ-Insassen zu Tode gespritzt zu haben.

© dpa

Angeklagt sind 22 SS-Angehörige des Konzentrationslagers Auschwitz, denen die Staatsanwaltschaft Mord und Beihilfe zum Mord vorwirft.

Neben Angehörigen der Lager-Gestapo und des KZ-Wachdienstes sitzen auch zwei Zahnärzte, ein Apotheker, vier Sanitätsdienstgrade (Krankenpfleger) und ein Funktionshäftling auf der Anklagebank.

Der Gynäkologe Dr. Franz Lucas, Lagerarzt in Auschwitz, hat sich am Eröffnungstag vorübergehend krank gemeldet.

Namensgeber des Verfahrens ist der Hamburger Exportkaufmann Robert Mulka, in Auschwitz Adjutant des Lagerkommandanten Rudolf Höß und somit der ranghöchste Angeklagte im Prozess.

Der Mann, der das Verfahren initiiert hat, sitzt an diesem Freitag nicht im Saal. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, selbst Opfer des Naziregimes, hat 1959 mit einer Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs durchgesetzt, dass die Anklagen gegen einzelne KZ-Schergen zusammengeführt werden, um das System Auschwitz sichtbar werden zu lassen.

Erschießungslisten von Auschwitz, die ein ehemaliger Häftling aus dem brennenden Breslauer Bezirksgericht gerettet hat, dienten ihm als Grundlage. Mithilfe des Internationalen Auschwitzkomitees wurden weitere Angeklagte identifiziert und Hunderte Zeugen ausfindig gemacht.

In 75 Aktenbänden dokumentieren die Staatsanwälte das über viele Jahre gesammelte Beweismaterial, die Anklageschrift umfasst 700 Seiten.

Alle Angeklagte plädieren für nicht schuldig

Trotz der erdrückenden Indizien erklären sich alle 22 Angeklagten für nicht schuldig. Offenbar bauen sie darauf, dass ihnen - 18 Jahre nach Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz - eine persönliche Schuld schwer nachzuweisen sein wird.

Von den Gräueln im Lager wollen die meisten nichts mitbekommen haben. Andere berufen sich auf den Befehlsnotstand und beteuern, das Leid der Häftlinge, wo immer es ging, gelindert zu haben.

SS-Zahnarzt Dr. Willy Frank etwa nennt das Geschehen in Auschwitz ein "Unrecht", ja ein "Verbrechen"; aber woher das Gold stammte, das in der Kommandantur-Zahnstation eingeschmolzen wurde, habe er nicht gewusst.

Sein Zahnarzt-Kollege Dr. Willi Schatz bezeichnet den Dienst auf der Rampe als "Missbrauch", selektiert habe er selbst aber nicht.

SS-Sanitätsdienstgrad Herbert Scherpe sagt, er sei "über das Geschehen entsetzt" gewesen und habe sich gedrückt, wo er nur konnte. Krankenpfleger Emil Hantl glaubt, in Auschwitz "anständig" geblieben zu sein.

Und SS-Sanitätsdienstgrad Gerhard Neubert gibt zu Protokoll, dass er für die Häftlinge Mitleid empfunden und ihnen "Zusatzverpflegung, Medikamente und Verbandsmaterial" besorgt habe, teilweise sogar aus eigener Tasche.

"Befehl sei Befehl"

Licht und Schatten zeigten sich bei KZ-Arzt Dr. Franz Lucas.

Licht und Schatten zeigten sich bei KZ-Arzt Dr. Franz Lucas.

© Fritz Bauer Institut

Am 27. Januar 1964, dem 11. Verhandlungstag, sagt der genesene Angeklagte Lucas, Gynäkologe aus Elmshorn, zum ersten Mal aus. Der 1911 geborene Arzt und Philologe hat 1944 fünf Monate in Auschwitz Dienst getan.

"Gleich am ersten Tage", erklärt er, "wurde mir bei einem Glas Schnaps von den Dingen in Auschwitz - auch von den Vergasungen - erzählt. Ich sagte, ich sei Arzt. Meine Aufgabe sei, Menschenleben zu erhalten, nicht zu vernichten."

Daraufhin habe er seinem früheren Vorgesetzten "von den Dingen in Auschwitz" geschrieben. "Dieser antwortete mir: Befehl sei Befehl. Befehle seien zu befolgen."

Im Urlaub habe er dann den Bischof von Osnabrück, Dr. Hermann Wilhelm Berning, um Rat gebeten. "Er sagte mir, unmoralische Befehle dürften nicht befolgt werden, man brauche jedoch nicht sein eigenes Leben zu riskieren."

Auf den Vorwurf der Anklage, dass er selektiert habe, antwortet er wiederholt, zwar zum Rampendienst eingeteilt gewesen zu sein, aber niemals Menschen ins Gas geschickt zu haben.

"Ich habe Häftlinge getötet"

Der erste Angeklagte, der seine Schuld einräumt, ist der SS-Oberscharführer Josef Klehr.

Am 12. Verhandlungstag, dem 30. Januar 1964, gibt der gelernte Tischler, der von 1941 bis 1945 als Sanitätsdienstgrad im Häftlingskrankenbau des Stammlagers Auschwitz sowie zur Seuchenbekämpfung eingesetzt worden ist, zu Protokoll, dass er vom Lagerarzt Dr. Friedrich Entress Anfang 1942 aufgefordert worden sei, Häftlinge mittels Phenol zu töten.

"Ich habe ihn inständig gebeten, davon abzusehen", so Klehr vor Gericht, "Dr. Entress drohte mir jedoch damit, mich an die Schwarze Wand zu stellen."

Während eines Zeitraums von zwei bis drei Monaten habe er wöchentlich zweimal zum Tode bestimmte Häftlinge totgespritzt. "Ich tötete jeweils zwölf bis 15 Menschen", sagt Klehr vor Gericht, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. "Insgesamt habe ich 250 bis 350 Häftlinge getötet."

Bis dahin haben Klehr wie auch seine Kollegen Hantl und Scherpe bestritten, selbst Häftlinge "abgespritzt" zu haben. Ein Begriff, den sich der Vorsitzende Richter bald verbittet. Auch will Klehr, Leiter des Desinfektions- und Vergasungskommandos, selbst niemals Zyklon B in einen Vergasungsraum eingeleitet haben - das Gas habe er nur für die Entwesung der Baracken gebraucht.

Geschlagen habe er nur selten, sagt er bei der richterlichen Vernehmung im Vorfeld des Prozesses. "Ich war eine solche Respektperson, dass ich im Allgemeinen gar nicht zu schlagen brauchte."

Im Laufe des Prozesses entpuppt sich Klehr als einer der schlimmsten Sadisten unter den Angeklagten. Der polnische Chirurg Dr. Tadeusz Paczula, Rapportschreiber im Häftlingskrankenbau des Stammlagers, ist nach Frankfurt gereist, um dies zu bezeugen. "Ich kann ihn nur ein Individuum nennen", sagt der 43-Jährige am 8. Mai 1964 vor Gericht.

Klehr habe selbstständig im Krankenbau selektiert und dabei seine Pfeife im Mund behalten. Am Heiligabend 1942 habe er 40 Menschen zum Tode verurteilt und sie schließlich mittels Phenolinjektionen ins Herz eigenhändig hingerichtet.

Peinliche Todesmeldung kaschiert

Das Grauen, das die insgesamt 357 Zeugen, darunter 211 ehemalige Auschwitz-Häftlinge, vor Gericht schildern, ist für viele nicht zu ertragen. Zeugen brechen unter der Last ihrer Erinnerung zusammen, Zuschauer kollabieren, eine Geschworene kippt vom Stuhl.

Anfang April 1964 zieht das Gericht um. Neuer Verhandlungsort ist das Bürgergemeinschaftszentrum Haus Gallus in der Frankenallee 111. Der eigens für dieses Verfahren errichtete Saal bietet Platz für 143 Zuhörer und 124 Pressevertreter. Doch das öffentliche Interesse flaut bereits ab.

An manchen Tagen bleibt ein Drittel der Zuschauerplätze leer. Dafür kommen jetzt immer mehr Schulklassen zum Anschauungsunterricht.

Am 29. Mai 1964 sagt ein prominenter Mediziner aus Polen aus. Professor Wladyslaw Fejkiel, Ordinarius an der Universität Krakau, war von 1940 bis 1945 in Auschwitz. Im Häftlingskrankenbau wurde er als Pfleger eingesetzt, verrichtete dort jedoch die Arbeit eines Chefarztes.

Einmal musste er einem SS-Arzt dabei helfen, eine peinliche Todesmeldung zu kaschieren. Die Gestapo hatte einem Häftling den Tod in Folge einer Venenentzündung im rechten Bein attestiert.

Die Versicherungsgesellschaft wunderte sich, hatte der Tote doch seit einer Amputation gar kein rechtes Bein mehr. "Das geschah dadurch", so Fejkiel, "dass man nur einige festgelegte Todesursachen hatte, andere durften nicht angegeben werden."

Am 83. Verhandlungstag, dem 28. August 1964, tritt der Arzt Dr. Aron Bejlin in den Zeugenstand, der inzwischen beim Gesundheitsministerium des Staates Israel arbeitet und einer der Nebenkläger ist. Seine Mutter ist in Auschwitz vergast worden, seine Frau dort an Flecktyphus gestorben.

Er selbst habe bei seiner Ankunft nur aus Zufall überlebt. "Wir saßen in den vorderen Wagen", erzählt der 55-Jährige. "Wenn wir in den hinteren gesessen hätten, säße ich nicht mehr hier.

Weil der Rohde (Anm. d. Red.: SS-Arzt Dr. Werner Rohde) mit dem Schoßhündchen - ‚La donna é mobile‘ aus Rigoletto hat er dabei gepfiffen - nur die ersten 30, 40 Reihen ausgewählt hat." Die anderen wurden vergast.

Selektion auf Befehl

Nebenkläger und Arzt Aron Bejlin hat Auschwitz nur durch Zufall überlebt.

Nebenkläger und Arzt Aron Bejlin hat Auschwitz nur durch Zufall überlebt.

© Schindler-Foto-Report

Dem Angeklagten Lucas stellt Aron Bejlin ein gutes Zeugnis aus. Er habe zusammen mit den jüdischen Ärzten Kranke operiert, "und zwar nicht um zu experimentieren, sondern um Leute zu retten", so Bejlin.

Einer seiner Mithäftlinge, ein angesehener Arzt, habe Lucas einen "anständigen Kerl" genannt. Manchmal habe er sogar Häftlingen Essen besorgt. "Dass ein SS-Offizier einem jüdischen Häftlingsarzt oder einem Kranken Verpflegung bringt, war so etwas, das grenzt an Wunder."

Aber auch Dr. Franz Lucas hat sich schuldig gemacht. Nach einer zweitägigen Ortsbesichtigung in Auschwitz, an der er als einziger Angeklagter teilnimmt, gibt er vor Gericht zu, an vier Selektionen beteiligt gewesen zu sein.

Allerdings habe er die Häftlinge gegen seine Überzeugung und auf strikten Befehl seiner Vorgesetzten ins Gas geschickt. Das Frankfurter Schwurgericht verurteilt ihn schließlich wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens 1000 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten.

In einem Revisionsprozess wird Lucas jedoch 1970 freigesprochen.

Nach 154 Prozesstagen ist die Beweisaufnahme abgeschlossen. Sechs Tage dauern die Plädoyers der Staatsanwälte, drei Tage die der Nebenkläger und 17 Tage die der insgesamt 21 Verteidiger.

Am 19. und 20. August 1965 verkündet Richter Hofmeyer die Urteile: sechs lebenslange Zuchthausstrafen, eine zehnjährige Jugendstrafe und zehn Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und 14 Jahren.

Drei Angeklagte werden aus Mangel an Beweisen freigesprochen, zwei sind inzwischen ausgeschieden. "Bewältigung unserer Vergangenheit heißt Gerichtstag halten über uns selbst", schreibt der hessische Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer 1969 im Rückblick auf den Auschwitz-Prozess.

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