Emil von Behring

Ein schwieriger Retter

Er gilt als Retter der Kinder und Soldaten, war zugleich aber ein sehr schwieriger, auf seinen wirtschaftlichen Vorteil bedachter Mensch. Vor 100 Jahren ist der Nobelpreisträger Emil von Behring (1854-1917) gestorben. In Marburg wird über ihn geforscht.

Von Gesa Coordes Veröffentlicht:
Emil von Behring auf einem Portrait.

Emil von Behring auf einem Portrait.

© Alle Fotos und Repros: Gesa Coordes

MARBURG. "Er war ein Querulant und Rebell", sagt Dr. Ulrike Enke von der Emil-von-Behring Bibliothek. Die Marburger Medizinhistorikerin forscht bereits seit vielen Jahren über Emil von Behring, über den sie eine Biographie schreibt. Auch die Drehbuchautorinnen der aktuell laufenden historischen Medizinserie "Charité" hat sie mit Hintergrundinformationen unterstützt.

"Er war kein einfacher Mensch", sagt sie über den Nobelpreisträger: Sehr intelligent und kreativ, aber auch misstrauisch, verschlossen, reizbar und herrschsüchtig. Mitarbeiter hatten sich streng unterzuordnen. Seine Schwester nannte ihn "knarrig", also mürrisch und brummig.

Ihn als "Retter der Kinder" zu bezeichnen, findet Ulrike Enke jedoch keineswegs übertrieben. Ende des 19. Jahrhunderts starb noch jedes zweite Kind an Diphtherie. Mehr 50.000 Mädchen und Jungen wurden allein in Deutschland jedes Jahr von der Erkrankung dahingerafft, die durch Bakterien im Hals- und Rachenraum erregt wird – bis 1893. Ab diesem Jahr konnte die Krankheit erstmals mit einem Heilserum behandelt werden, das Emil von Behring entwickelt hatte.

Hergestellt wurden die ersten Seren gegen den "Würgeengel der Kinder" am Institut für Infektionskrankheiten in Berlin, in dem er seit 1889 als Assistent von Robert Koch tätig war. Gemeinsam mit seinem japanischen Kollegen Shibasaburo Kitasato veröffentlichte Behring 1890 den Beitrag über die "Diphtherie-Immunität und die Tetanus-Immunität bei Thieren", der Medizingeschichte schrieb. Die Forscher hatten Ratten, Meerschweinchen und Kaninchen gegen die beiden Krankheiten immunisiert.

"Damit war er der Erste, der einen passiven Impfschutz entwickelt hat", sagt Enke. Nachdem die richtige Dosis geklärt war, hatte das Heilserum einen so durchschlagenden Erfolg, dass vom "Behring'schen Gold" die Rede war. Schon ab 1894 wurde der Impfstoff mit Hilfe von Pferden hergestellt.

Aufstieg aus einfachen Verhältnissen

Auch im Ersten Weltkrieg verdanken zahllose Menschen dem Wissenschaftler ihr Leben. Die auf Behrings Forschungen basierende Tetanus-Prophylaxe wurde damals zum ersten Mal breit eingesetzt. Mit der Impfung konnte der Wundstarrkrampf dramatisch eingedämmt werden.

Für die wissenschaftliche Biografie wertet Enke auch neue Quellen aus. Neben der Korrespondenz der Behring-Werke gehören Nachlässe von Verwandten und Kollegen sowie 2000 Briefe von Behrings Ehefrau Else an ihre Mutter dazu. Behrings Enkel Emilio (siehe Interview rechts) hat sie der Forschung überlassen.

Im Gegensatz zu seiner Frau wuchs Emil von Behring in einfachen Verhältnissen in einer Großfamilie mit zwölf Kindern auf. Nur mit einem Stipendium konnte er das Gymnasium besuchen. Medizin studierte er, indem er sich verpflichtete, jedes Semester mit einem Jahr als Militärarzt abzugelten. Bereits im Alter von 24 Jahren wurde er Doktor der Medizin. Beim Militär stieß er auf sein Lebensthema, die Seuchenhygiene.

Nach seinen Jahren in Berlin wurde er 1895 Professor für Hygiene in Marburg, wo er sich erst richtig entfaltete. Nur sechs Jahre später erhielt Behring den Nobelpreis für Medizin, den ersten überhaupt, und wurde in den Adelsstand erhoben. Das Preisgeld von 150.800 schwedischen Kronen (das entspricht heute fast einer Million Euro) nutzte er dazu, die Marburger Behringwerke aufzubauen, deren Nachfolger – darunter CSL Behring und GlaxoSmithKline – die bis heute größten Unternehmen der Stadt sind.

Mit zunächst zwölf Mitarbeitern startete er die Firma in seinem Laboratorium am Schlossberg. Schon 1913 zogen sie in die ehemalige Ziegelei in Marburg-Marbach, wo bis heute der Sitz des in den 1990er Jahren aufgegliederten Unternehmens liegt. Die Gewinne aus der Vermarktung seines Diphtherie-Heilserums legte er in weitläufigen Ländereien an. Behring, der auch ehrenamtlicher Stadtrat in der Universitätsstadt war, avancierte zum größten Grundbesitzer Marburgs.

Produzenten der ersten industriell hergestellten Antikörperpräparate waren bis in die 40er Jahre vor allem Pferde, weshalb das Bild um die Behringwerke jahrelang von Pferdekoppeln geprägt war. So standen am Ende des Zweiten Weltkrieges fast 2000 Pferde auf dem Gelände. Von Anfang an gab es eine Zusammenarbeit mit den Farbwerken Hoechst, wo er ein gefürchteter Verhandlungspartner war. Seine Selbstständigkeit verlor das Unternehmen erst 1929, sieben Jahre nach dem Tod des Firmengründers. Zu diesem Zeitpunkt wurde es von den I.G. Farben übernommen.

Die Nationalsozialisten bedienten sich der Errungenschaften Behrings, verleumdeten ihn jedoch wegen der jüdischen Abstammung seiner Ehefrau Else Spinola, der Tochter des damaligen Verwaltungsdirektors der Charité. Er hatte die 22 Jahre jüngere Frau im Alter von 42 Jahren geheiratet. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor.

Depressiv und morphiumsüchtig

Die jetzt zugänglichen Briefe dokumentieren Behrings gesellschaftlichen Aufstieg. Professoren, Mitarbeiter, Nachbarn, Gäste aus Übersee und Offiziere wurden zu Kalbsbraten und Gänseleberpastete eingeladen. Dazu ließ sich die Familie Ananas aus Berlin und Wein aus Geisenheim liefern. Regelmäßig fuhr Else nach Frankfurt und Berlin, um sich neue Kleider schneidern zu lassen. Behring war offenbar ein unterhaltender Gastgeber. Seine Ehefrau freut sich auch oft darüber, "wie elegant er wieder aussah".

Viele Jahre wurde ihre Rolle totgeschwiegen, weil sie den Nazis als Halbjüdin galt. 1935 musste sie an Adolf Hitler schreiben, damit ihre Söhne studieren durften. Daraufhin wurden sie zu "Edelariern" erklärt.

In den Briefen zeigt sich Else von Behring als eine dem Leben zugewandte Frau, die ihren Ehemann wohl oft aus der Depression herausriss. Der rastlos arbeitende Forscher litt nämlich unter quälenden Schlafstörungen und verfiel immer wieder in Depressionen, die ihn ab 1907 zu einem zweieinhalbjährigen Aufenthalt in einem Sanatorium in München zwangen.

Für seine letzten zehn Jahre ist belegt, dass er morphiumabhängig war. Er starb 1917 im Alter von 63 Jahren und wurde im Mausoleum seiner Familie auf der "Elsenhöhe" bei Marburg beigesetzt. Heute ist die Stadt sehr stolz auf den großen Gelehrten, dem sie mehr als 4000 Arbeitsplätze zu verdanken hat.

Seinen 100. Todestag feiern Stadt und Universität Marburg gemeinsam. Hauptredner ist Medizinnobelpreisträger Professor Harald zur Hausen vom Krebsforschungszentrum Heidelberg, der über "Infektionsforschung 100 Jahre nach Emil von Behring" sprechen wird.

Behring-Preis für US-Immunologin

Der mit 20 000 Euro dotierte Emil-von-Behring-Preis der Hochschule geht in diesem Jahr erstmals an eine Wissenschaftlerin, die amerikanische Immunologin Dr. Yasmine Belkaid, die für ihre herausragenden Arbeiten auf dem Gebiet der Mikrobiota ausgezeichnet wird. Sie forscht am National Institute of Health.

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