Eine Ambulanz als Seismograph für Gewalt

Perfide. Manchmal fällt der Berliner Rechtsmedizinerin Saskia Etzold nur dieses Wort ein, wenn sie Menschen nach Gewalttaten untersucht. Was ihr auffällt: Die Hemmschwelle sinkt. Von Ulrike von Leszczynski

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Die Rechtsmedizinerin Saskia Etzold, Vize-Leiterin der Berliner Gewaltschutzambulanz, kennt die ganze Bandbreite von Gewalt: von blauen Flecken über Würgemale, Stichwunden und Verbrennungen bis hin zu Zeichen sexueller Übergriffe.

Die Rechtsmedizinerin Saskia Etzold, Vize-Leiterin der Berliner Gewaltschutzambulanz, kennt die ganze Bandbreite von Gewalt: von blauen Flecken über Würgemale, Stichwunden und Verbrennungen bis hin zu Zeichen sexueller Übergriffe.

© dpa picture alliance

BERLIN. "Wenn du gehst, mach ich dich tot." So simpel kann in Berlin eine Morddrohung klingen. Saskia Etzold ruft dann nicht die Polizei. Die Rechtsmedizinerin und Vize-Leiterin der Berliner Gewaltschutzambulanz ist bei Erwachsenen zum Schweigen verpflichtet. Sie kann dennoch eine ganze Menge für Frauen tun, die sich von gewalttätigen Partnern trennen wollen: Verletzungen dokumentieren, Beratungsstellen empfehlen oder ein Frauenhaus. "Jeder Fall ist anders. Aber es geht immer um die Frage: Wie kriegen wir das in den Griff?", sagt Etzold.

Die Gewaltschutzambulanz liegt hinter einem hohen Metallzaun in einer stillen Straße im Stadtteil Moabit. Direkt neben der Rechtsmedizin der Charité. Wer rein will, muss klingeln und mehrere Türen passieren, die sofort wieder zuschnappen. Ein bisschen wie im Gefängnis. Nur, dass die Täter draußen herumlaufen und die Opfer drinnen sitzen. Auf den Tischen stehen Taschentuch-Boxen. Geweint wird hier viel.

Pro Monat kommen 100 Menschen

Seit 2014 ist die Ambulanz so etwas wie ein Seismograph in der Hauptstadt geworden. Eine Anlaufstelle, die gesellschaftliche Entwicklungen manchmal früher und feiner messen kann als Polizei und Justiz. Etzold und ihre Kolleginnen sehen die ganze Bandbreite von Gewalt – blaue Flecken, Knochenbrüche, Stichverletzungen, Würgemale, Verbrennungen, Spuren sexueller Übergriffe. Im Schnitt kommen 100 Menschen im Monat.

Oft sind es Gewalttaten, die im Polizeibericht nicht auftauchen. Rund die Hälfte der erwachsenen Betroffenen will keine Anzeige erstatten und kein Gerichtsverfahren. Aus Scham, aus Angst vor dem Partner, aus Angst um den Job – oder im festen Glauben, damit allein fertig zu werden. Ein Gutachten der Ambulanz ist dann wie eine private Rückversicherung.

Berlin, ein gefährliches Pflaster

Gewalt gegen Kinder – viel zu oft nicht erkannt.

Gewalt gegen Kinder – viel zu oft nicht erkannt.

© Barbara Winzer / stock.adobe.com

Nach der jüngsten Polizeilichen Kriminalstatistik zählt Berlin zu den gefährlichsten Großstädten Deutschlands. Auf 100.000 Einwohner kommen 16.160 Straftaten. Etzold beeindrucken solche Superlative wenig. Sie beobachtet anders.

"Die Zahl der Gewalttaten ist relativ konstant. Aber die Hemmschwelle sinkt. Das ist der Punkt", sagt sie. Früher hätten aggressive Umstehende keine Rettungssanitäter angegriffen. Kaum jemand sei wegen langer Wartezeit in der Notaufnahme ausgerastet. Busfahrer, Polizisten und Wachschützer seien seltener bespuckt und geschlagen worden. Ganz zu schweigen von dem, was sich verfeindete Nachbarn inzwischen alles antun.

"Alltagsgewalt wird in unserer Gesellschaft unterschätzt", urteilt sie. Stereotype griffen nicht – Gewalt sei weder "bildungsfern" noch habe sie einen "Migrationshintergrund". "In der Villa in Zehlendorf wird genauso geprügelt wie in der Platte in Marzahn." Nur subtiler. "Hartz IV haut ins Gesicht. Akademiker schlagen dahin, wo es niemand sieht." Ihr jüngstes Gewaltopfer war zwei Tage alt, das älteste über 90.

Überforderte Ämter, ahnungslose Kinderärzte

Gemeinsam mit ihrem Chef Michael Tsokos hat Etzold ein Buch geschrieben: "Deutschland misshandelt seine Kinder." Es schildert nicht nur unfassbare Grausamkeiten, es liest sich wie eine Abrechnung mit dem deutschen Hilfesystem – überforderte Jugendämter, unerfahrene Familienhelfer, ahnungslose Kinderärzte, naive Richter. Es ist ein subjektiver Blick. "Ich habe Empathie mit allen Opfern. Aber Kinder können nicht ihre Koffer packen und gehen", sagt Etzold. Dass es keine Kinderrechte im Grundgesetz gibt, frustriert sie. "Wenn Eltern, die ihr Kind nachweislich schwer misshandelt haben, es trotzdem weiter sehen dürfen – dann geht mir das nicht in den Kopf." Da wundert es, wenn Etzold betont: "Ich mag meinen Beruf."

Die Zahl der Gewalttaten ist relativ konstant in Berlin. Aber die Hemmschwelle sinkt, so eine Erfahrung in der Berliner Gewaltschutzambulanz.

Die Zahl der Gewalttaten ist relativ konstant in Berlin. Aber die Hemmschwelle sinkt, so eine Erfahrung in der Berliner Gewaltschutzambulanz.

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Auch, wenn er sie manchmal an die eigene Schmerzgrenze führt. Die Gespräche mit den überlebenden Opfern des Terroranschlags vom 19. Dezember 2016 auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gehören zu den Erinnerungen, die sie bei aller professionellen Distanz nicht aus dem Kopf bekommt. Mit wem kann sie reden, außer den Kollegen? "Mit meinem Mann." Veit Etzold ist Thriller-Autor.

Merkliche Veränderungen in der Gesellschaft

Neben der unvorstellbaren Bandbreite an häuslicher Gewalt gehören Vergewaltigungen zu ihrer Arbeit. Etzold beobachtet auch hier eine gesellschaftliche Veränderung. "Manchmal denke ich, dass die Diskussion über Rocklängen wieder auflebt. Samt der Unterstellung, eine Frau sei ja selbst Schuld, weil sie durch ihre Kleidung provoziert", sagt sie. Ihr Blick wird finster. "Für mich ist das, als ob die Themen von Alice Schwarzer von vor 30 Jahren plötzlich wieder aufploppen." Statt einer klaren Botschaft: "Eine Frau kann anziehen, was sie will. Und sie kann nichts für eine Vergewaltigung." Die Empfehlung an Frauen, besser eine "Armlänge Abstand" zu halten, macht sie fast wütend.

Genauso wütend, wie die Argumentation mancher Sozialarbeiter aus anderen Kulturen. "Sie sagen, Gewalt gegen Frauen und Kinder müssten wir hier akzeptieren, weil die andere Kultur das nicht anders kenne." Der Rechtsmedizinerin ist die Empörung anzumerken. Sie bleibt sachlich. "Das halte ich für grundfalsch." Sie erlebt das Gegenteil. Geflüchtete Frauen lernen schnell, dass Gewalt in Familien in Deutschland verboten ist. "Und sie kommen zu uns. Mit Dolmetschern, mit Schwestern oder mit Freundinnen."

Zu viele Entschuldigungen für Gewalt

Für Etzold gibt es zu viele Entschuldigungen für Gewalt, zu viele zerfasernde Diskussionen. "Manchmal erinnert mich das an die Sandkastenlogik von Kleinkindern: Der hat aber angefangen", sagt sie. Statt Klartext. Statt dem Satz: Gewalt ist immer indiskutabel. Was sie beeindruckt, ist Zivilcourage. Das fängt dabei an, Beleidigungen in Bus und Bahn nicht zu dulden. Es wird zur Hochachtung vor den Männern, die jüngst in Hamburg einen Attentäter samt Messer in Schach hielten bis die Polizei kam. Doch Zivilcourage ist etwas, von dem Gewaltopfer in Berlin immer seltener erzählen. Noch so ein Trend. (dpa)

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