Zwang oder Antrieb?

Wenn Perfektion zum Maß aller Dinge wird

"Du bist ein Versager!" Der Perfektionist ist ein gnadenloser Richter seiner selbst und anderer Menschen. Zwänge, Essstörungen, Phobien oder Depressionen können die Folge sein. Und dennoch: Es gibt Berufe, in denen Perfektionismus eine fundamentale Bedeutung hat.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Perfekter Buchsbaumbeschnitt? Es geht immer noch ein wenig perfekter.

Perfekter Buchsbaumbeschnitt? Es geht immer noch ein wenig perfekter.

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"Du bist ein guter Mensch, Charly Brown." Etwas Schlimmeres könnte einem Perfektionisten nicht geschehen, als dass ihn da jemand wertschätzt (oder doch so tut), obwohl er mit dem Baseball-Schläger zum X-ten mal am Ball vorbei gedroschen hat. Wie gut, dass der Held der Comic-Familie der "Peanuts" gar kein Perfektionist ist, sondern ein melancholischer Verlierer. Viel perfektionistischer ist seine Psychotherapeutin, Lucy van Pelt ("Psychiatric Help 5 Cent"). Sie erträgt keine Fehler und nörgelt an allem und jedem gnadenlos herum. Sie weigert sich, eine imperfekte Welt hinzunehmen. Darum hält sie Charly seine Fehler um so genüsslicher vor, um ihn dann sarkastisch zu trösten: "Du bist ein guter Mensch, Charly Brown".

Lesen Sie dazu auch: "Ärzte müssen perfektionistisch sein!"

Lustig indessen ist das Ganze nur im Comic. Perfektionismus ist oft ein Leiden. Der Psychotherapeut Nils Spitzer hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, wie Perfektionisten sich das Leben schwer machen und was sie dagegen tun können. Titel: "Perfektionismus überwinden."

Weiter, höher und schneller

Laut Spitzer versteht der Perfektionist seine eigenen Handlungen in vielen seiner Lebensbereiche vor allem als Leistung. "Und sie sollen möglichst hohen Maßstäben genügen", so Spitzer. Mancher will nur im Beruf das Maximum erreichen; nicht nur weiter, höher und schneller, sondern fast unerreichbar weit, fast unerreichbar hoch und fast unerreichbar schnell. Zufriedenheit ist dem Perfektionisten also fremd. Erreicht er sein Ziel, fragt er sich sogleich: Wäre nicht mehr drin gewesen? Habe ich meine Maßstäbe zu eng gesetzt? Er bleibt mürrisch, weil der Bleistift zwar säuberlich gespitzt, aber schief auf dem Schreibtisch liegt oder die OP-Naht zwar ordentlich, aber nicht makellos gearbeitet wurde, oder weil die Tür zwar geschlossen, aber nicht leise geschlossen wurde. Die Betroffenen streben entweder nur in manchen Lebensbereichen nach Makellosigkeit, schreibt Spitzer, "andere wiederum machen daraus einen umfassenden Way of Life."

"Du bist ein Versager"

Manche nervt die eigene Veranlagung nur, andere leiden und machen sich regelrecht nieder, wenn etwas schief läuft. Solche klinischen oder dysfunktionalen Perfektionisten erkennt man daran, dass sie rücksichtslos ihren überhohen Ansprüchen nachjagen und ihr Selbstwert postwendend erlischt, wenn ihre Leistung nicht vollkommen war. Der kleinste Fehler – und alles ist dahin, und der Perfektionist knickt unter dem Urteil seines Inneren ein: "Du bist ein Versager!" Der Perfektionist ist ein gnadenloser Richter seiner selbst und anderer. Zwänge, Essstörungen, Phobien oder Depressionen können die Folge sein, schreibt der Psychotherapeut Spitzer aus Gladbeck.

Längst hat sich Psychologie über das Phänomen gebeugt und unterscheidet den klinischen von Katastrophen-Pefektionismus: Wo etwas nicht genügt, bricht der Untergang herein. Sie unterscheidet "sensiblen Selbstwert" vom kompromissloseren "unbedingten negativen Selbstwert" als Quelle des Perfektions-Strebens. Oder auch den "selbst verurteilenden Perfektionismus", der allein dem Betroffenen Druck macht, vom "sozialen Perfektionismus": Marke Lucy van Pelt, der alles von allen fordert – um nur einige der Unterscheidungen zu nennen, die Spitzer notiert.

Leben als Exzellenz-Initiative

Die Therapie des Perfektionisten fällt nicht leicht. Denn von allen Seiten bietet ihm die Optimierungsgesellschaft Angebote, seine Leiden noch zu vergrößern. Die Rede ist von den Gewohnheiten der Optimierungsgesellschaft und der Upgrade-Kultur, immer besser zu werden und immer Besseres zu fordern. Das Leben als Exzellenz-Initiative. Im Jahr 2010 ließen sich deutsche Patienten rund 117 000 mal kosmetisch operieren. Sieben Millionen Deutsche und damit 8,5 Prozent der Bevölkerung besuchen regelmäßig Fitnessstudios. Die Perfektionisten unter ihnen tun dies alles, obwohl sie längst schön und fit genug sind.

Aber wie kommt man herunter von den starren Maßstäben und dem nach Makellosigkeit gierenden Selbstwert? Es gehe nicht darum, die Maßstäbe aufzugeben, so Spitzer, sondern die Starre, mit der sie verfolgt werden. Spitzer empfiehlt Müßiggang, Faulheit sogar, Zeitverschwendung und Entspannung. Eine halbe Stunde am Tag buchstäblich die Hände in den Schoß legen. Die Zeit einer Krankheit einen Tag über ihre eigentlich Dauer hinaus ausdehnen – für Pefektionisten in der Tat ein Zumutung. Sich mit Nichtigkeiten beschäftigen. Einen Tag ohne Uhren verbringen. Stümpernd spontanen Interessen folgen.

Die Forscherin Dr. Christine Altstötter-Gleich von der Universität Landau indessen sieht die Dinge zum Teil anders. "Wo es Konsequenzen hat, was ich tue, hat Müßiggang nichts verloren." Wenn ein Arzt Gefahr laufe, eine falsche Diagnose zu stellen und eventuell damit dazu betrage, dass ein Patient nicht geheilt wird, sei Müßiggang fehl am Platz. "Wir möchten ja auch nicht, dass ein Flugzeugingenieur bei der technischen Kontrolle eines Flugzeug in Faulheit verfällt", sagt Altstötter-Gleich.

Sie unterscheidet deshalb den dysfunktionalen Perfektionisten, dem sein Leben aus lauter Genauigkeit entgleitet, von dem, der Fehler erkennt und sie zukünftig vermeiden will. Letztere haben gelernt, "auch bei hohen Ansprüchen konstruktiv zu bleiben. Diesen Menschen verdanken wir sehr viel" (siehe Interview), sagt Altstötter-Gleich. Die Läuterung des Perfektionisten besteht dann darin, seine Gabe nicht als Krankheit, sondern als Chance zu kultivieren.

Vielleicht mag es den Perfektionisten auch entspannen, dass seine Heilung zum Teil von ganz allein geschehen kann: Jeder, der ein paar Jahre in seinem Beruf gearbeitet hat, ein paar Jahre verheiratet ist, ein paar Jahre Kinder erzogen hat, weiß, dass sich niemand vollkommen der ganz automatischen Vervollkommnung seines Tuns entziehen kann.

Der Lebensvollzug als solcher treibt zur Reifung. Ein 55-jähriger Arzt kann potenziell besser mit seinem Patienten kommunizieren als ein 32-jähriger Arzt und beherrscht Untersuchungsmethoden und die Abrechnung tendenziell besser. Und vor allem weiß er, dass Erfahrung als solche nicht bedeutet, 30 Jahre lang dieselben Fehler zu machen. Deshalb ist er bereit, Ratschläge anzunehmen und zu lernen. Mancher nennt das Güte sich selbst gegenüber. Warum auch nicht? Vielleicht täten dem perfektionistischen Arzt ein paar Kakteen auf dem Fensterbrett gut. Nicht wegen der Dornen. Sondern weil Kakteen ausdauernd sind und nach langem Warten und guter Pflege blühen.

Die Weisheit des kleinen Bruders

Offen bleibt die Frage, was den Perfektionisten davon abhalten würde, sich perfekt entspannen oder seine Gabe perfekt wertschätzen zu wollen. Lucy van Pelt von den "Peanuts" hatte keinen Psychotherapeuten, der hätte helfen können. Aber einen kleinen Bruder. Linus. Er bringt Erstaunliches zuwege. Als Lucy über das fehlerhafte Leben lamentiert, sagt ihr Linus: "Zumindest hast du einen kleinen Bruder, der dich lieb hat." Da kapituliert Lucy und fällt ihrem Bruder weinend um den Hals. Linus: "Ab und zu sage ich doch mal das Richtige."

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