Obdachlosigkeit

Wenn Jugendliche auf der Straße leben

Immer mehr Menschen in Deutschland sind nach Einschätzungen von Fachleuten wohnungslos – darunter auch viele junge Leute. Längst nicht alle von ihnen sind stereotypische Obdachlose.

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Das typische Bild eines Obdachlosen: Gerade junge Menschen haben oft keine Wohung und ziehen von Freund zu Freund für ein Dach über dem Kopf.

Das typische Bild eines Obdachlosen: Gerade junge Menschen haben oft keine Wohung und ziehen von Freund zu Freund für ein Dach über dem Kopf.

© Archiv Caritasverband Hannover e.V. (Jan Liske)

FRANKFURT/DORTMUND. Lydia übernachtet seit fast einem dreiviertel Jahr bei verschiedenen Freunden in Dortmund. Ein eigenes Zimmer hat die 20-Jährige aber nirgendwo. "Man kommt sich die ganze Zeit so vor, als ob man seinen Freunden auf der Tasche liegt und das ausgleichen müsste", berichtet die wortgewandte junge Frau traurig. Aber: "Ohne Arbeit keine Wohnung – und umgekehrt."

Mit Unterstützung der von Spenden finanzierten Off Road Kids Stiftung für Straßenkinder und junge Obdachlose hat sich Lydia inzwischen in Dortmund angemeldet und bekommt Hartz IV. Jetzt sucht sie eine Wohngemeinschaft und will unbedingt das Abitur nachholen.

Viele Wohnsitzlose aus Osteuropa

Charity Award

» Die Stiftung Off Road Kids ist mit dem Charity Award 2017 ausgezeichnet worden.

» Die Auszeichnung wird von Springer Medizin vergeben.

» Gewürdigt wird Engagement für hilfsbedürftige Menschen.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, dass es in Deutschland bis 2018 mehr als eine halbe Millionen betroffene Menschen geben wird. Ihr Durchschnittsalter liege zwischen 40 und 50 Jahren, sagt die stellvertretende Geschäftsführerin, Werena Rosenke. Etwa jeder Fünfte sei jünger als 25 Jahre. "Es gibt keine Anzeichen, dass der Anteil der Jüngeren weniger wird."

Unabhängig vom Alter steigt in den Großstädten der Republik die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen, wie auch eine Umfrage der dpa ergab. Viele von ihnen kommen aus Osteuropa. Wie viele junge Menschen kein festes Dach über dem Kopf haben, wissen die Städte gar nicht genau.

"Diese Personengruppe wird den Behörden häufig deswegen nicht bekannt, weil sie über "Couch-Hopping" bei Freunden und Bekannten und anderen möglicherweise prekären Unterkünften nicht bei den entsprechenden Stellen vorstellig wird", sagt Enrico Ickler von der Hamburger Sozialbehörde.

In München geht das Sozialreferat von rund 8600 Wohnungslosen aus, darunter ungefähr 1600 Minderjährige. Experten meinen aber, die Zahl der Menschen ohne eigene Wohnung sei höher – Tendenz steigend.

Unterschlupf in Notunterkünften

Nach einer Erhebung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) haben in Deutschland ungefähr 37 000 junge Menschen (bis 26 Jahre) keinen festen Wohnsitz. Ungefähr zwei Drittel von ihnen seien Jungen, etwa jeder Fünfte sei minderjährig.

Die meisten finden wie Lydia bei Freunden Unterschlupf oder schlafen in Notunterkünften; einigen bleibt nur die Straße. Die größte Gruppe der obdachlosen jungen Menschen ist der Studie zufolge die der 18-Jährigen.

"Da mit Eintritt der Volljährigkeit die Unterstützung des Jugendamts meist endet, wächst dann das Risiko, dass gefährdete Jugendliche gänzlich und unbemerkt aus den Hilfestrukturen herausfallen", stellt das DJI fest. "Die Jugendhilfe hört zu früh auf", sagt auch Jens Elberfeld, Leiter einer der vier Streetwork-Station der Stiftung Off Road Kids.

Grund seien oft die klammen Kassen der Kommunen. Diese Lücken müssten durch Bundesmittel ausgeglichen werden. "Es darf nicht sein, dass es was komplett anderes ist, wenn jemand in Duisburg zu Hause rausgeworfen wird als in Dortmund."

"Trifft Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft"

Familiäre Probleme, schlechte Erfahrungen mit einem Stiefelternteil, psychische Probleme und Suchterfahrungen – vor allem mit Cannabis und Amphetaminen – seien meist die Gründe für die verdeckte Obdachlosigkeit junger Menschen, sagt der Dortmunder Sozialarbeiter Elberfeld. "Das trifft Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft."

Lydia, die bei einer wohlhabenden und psychisch kranken Mutter in einem großen Haus aufwuchs, erzählt: "Ich habe zwei Jahre gebraucht, um den Familientherapeuten klar zu machen, was zu Hause eigentlich los ist." Letztlich gelang es ihr per Gericht durchzusetzen, dass ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen wurde.

Sie zog zu einer Tante – unterstützt von einem gesetzlichen Vormund. Als das alles mit 18 Jahren endete und sie allein in einer Wohnung saß, überrollten sie psychische Probleme: Sie musste ihr Fachabitur kurz vor dem Ende abbrechen, obwohl sie Sozialarbeit studieren will.

Der Stiftung sei es seit 1994 gelungen, für mehr als 4500 Ausreißer, Straßenkinder, obdachlose und wohnungslose junge Menschen eine dauerhafte Perspektive zu finden, berichtet Elberfeld. (dpa)

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