Neurourbanistik

Auf der Suche nach der "gesunden Stadt"

Im Dickicht der großen Metropolen werden Gesundheitsrisiken immer größer – die psychische Belastung vieler Bürger wächst. Neurowissenschaftler und Stadtplaner arbeiten am Konzept für die "gesunde Stadt".

Von Christina Bauer Veröffentlicht:
Alternativen unmöglich? Autos stauen sich auf der Berliner Stadtautobahn.

Alternativen unmöglich? Autos stauen sich auf der Berliner Stadtautobahn.

© Robert Schlesinger / picture all

BERLIN/MÜNCHEN. Machen Städte krank? Indizien dafür gibt es reichlich. Der Feinstaub aus dem Straßenverkehr etwa schadet der Lunge.

Der Gesundheitsbericht des Robert Koch-Instituts von 2015 nennt eine Zunahme von Allergien. Und das Stadtleben kann auch die Seele belasten. Die Prävalenzen für Depressionen, Ängste und Psychosen sind erhöht.

Zugleich ist das Leben in der Stadt aber auch mit Vorteilen verbunden. Experten arbeiten in diesem Zusammenhang mit dem Begriff "urban advantage".

Mit Blick auf die Gesundheit betrifft das etwa die bessere Versorgung mit Ärzten, Therapeuten, Krankenhäusern und Apotheken. Der Begriff steht darüber hinaus für mehr Möglichkeiten der Bildung und Entwicklung.

Eine zentrale Lebenswelt

Urbanisierung gehört zu den wichtigsten globalen Veränderungen, denen die Menschheit in den kommenden Jahrzehnten ausgesetzt sein wird.

Neurourbanistik als neue akademische Perspektive soll dazu beitragen, angemessen und effektiv auf die Herausforderungen einer urbanisierten Welt zu reagieren.

Die Themen neurourbanistischer Forschung umfassen dabei Grundlagenforschung, Epidemiologie und Public Health genauso wie experimentelle Stressforschung und Präventionsforschung.

Städte werden immer mehr zur zentralen Lebenswelt. Laut Prognosen sollen im Jahr 2050 weltweit in großen Metropolen etwa sieben von zehn Menschen leben.

"Es ist höchste Zeit zu verstehen, wo genau das Risiko im Stadtleben steckt", sagt Dr. Mazda Adli fest. Der Psychiater leitet an der Berliner Charité den Forschungsbereich Affektive Störungen und ist Chefarzt an der Berliner Fliedner-Klinik.

Er beschäftigt sich zudem mit dem relativ neuen Gebiet der Neurourbanistik. In diesem Forschungsbereich wollen Städteplaner und Architekten ihr Wissen zusammenbringen, um gesund zu bauen.

Derzeit sehen die Forscher vor allem eine spezielle Form von sozialem Stress als Krankheitsquelle. "Er entsteht aus der Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte und sozialer Isolation", sagt Adli.

Sei dieser Zustand chronisch und unveränderbar, wirke sich das Stadtleben negativ aus. Risikogruppen seien unter anderem Senioren, die nicht mehr so mobil sind, oder Migranten mit Integrationsproblemen.

Neben spezifischen Gesundheitsrisiken gibt es in Städten mehr Kriminalität. Dr. Johannes Luff leitet im Bayerischen Landeskriminalamt in München die Kriminologische Forschungsgruppe.

Als zentrale Ursache nennt er die sogenannte Tatgelegenheitsstruktur. Unbewachte Gewerbegebiete oder Läden beispielsweise seien regelrechte Einladungen zum Diebstahl.

Arbeitslos, Wohnung zu klein

Allerdings seien auch Sozialstrukturen von besonderer Bedeutung. Wo viele Menschen leben, die finanzielle Schwierigkeiten haben, arbeitslos sind und beengt wohnen, wachse die Zahl an Straftaten. Diese Faktoren führen Studien zufolge oft auch zu mehr Gesundheitsbelastungen, Stress und Aggression.

In Städten wie Berlin und Duisburg, so Luff, gebe es inzwischen regelrechte "No-go-Areas" über deren Bedeutung allerdings in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wird. München kenne solche Stadtbereiche kaum, die Stadt profitiere unter anderem von guten finanziellen Ressourcen und geringer Arbeitslosigkeit.

Eine gute soziale Mischung der Bevölkerung sei von fundamentaler Bedeutung", so Luff. Bei Bauprojekten sollten daher neben dem Bauamt noch Polizei und Präventionsfachleute einbezogen werden. Wichtig sei nicht zuletzt, vorhandene Gebäude auch zu nutzen und lange Leerstände zu vermeiden.

"Das Antidot gegen Stadtstress liegt in der Stadtplanung", betont auch Psychiater Adli. Mit Sorge sieht er, dass Wohnraum in deutschen Städten immer stärker verdichtet wird. Rund um Berlin etwa entstünden neue, große Wohnviertel. Oft fehle dort der für eine ausgewogene Quartiergestaltung wichtige öffentliche Raum.

Es müsse, so Adli, Begegnungsräume geben für Menschen draußen, Anreize, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Zugleich seien effektive Rückzugsräume in Gebäuden wichtig. Zugleich warnt er vor billigem Bauen auf engstem Raum mit dünnen, lärmdurchlässigen Wänden ohne Chance auf Privatsphäre.

Es geht um "Public Mental Health"

Oft, so Adli, zeigten sich Politiker und Städtebauverantwortliche für das Thema aufgeschlossen. Insgesamt aber werde noch zu wenig verstanden, dass Stadtplanung viel stärker als bisher den Aspekt "Public Mental Health" berücksichtigen müsse.

Eine "Charta der Neurourbanistik" sei in Arbeit und werde dieses Jahr veröffentlicht. Lebenswerte Wohnräume benötigen Konzepte und Ressourcen.

Dazu zählen nicht zuletzt Maßnahmen gegen Feinstaub, "grüne Lungen", etwa Parks, und Schutz vor krankmachendem Lärm. Am Ende wird sich Verantwortlichen wohl noch oft die Frage stellen, was ihnen gesunde Städte tatsächlich wert sind.

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