Zeitsprung

Den Wandel der Psychiatrie erleben

Als Gewalt zum Alltag psychiatrischer Einrichtungen gehörte, Patienten eingekerkert wurden und Bier als Beruhigugnsmittel eingesetzt wurde: Das Psychiatriemuseum in Riedstadt erinnert an diese Zeit. Zugleich zeigt es den enormen Wandel, den die Psychiatrie erlebt hat.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Ein Bett mit Kettenfixierung im Psychiatriemuseum Riedstadt.

Ein Bett mit Kettenfixierung im Psychiatriemuseum Riedstadt.

© Pete Smith

RIEDSTADT. Als der Psychiater Dr. Ludwig Franz Amelung am 1. Oktober 1821 seinen Dienst im hessischen Landeshospital für Alte, Unheilbare und Geisteskranke in Hofheim antrat, glich die Einrichtung mehr einem Gefängnis denn einer Krankenanstalt. Als Siechen- und Irrenhaus 1533 von Philipp dem Großmütigen gestiftet, beherbergte das später in Philippshospital umbenannte Krankenhaus etwa 250 Patienten, davon rund 200 psychisch Kranke.

Amelung, damals 23 Jahre jung und der erste Hospitalarzt im Haus, krempelte die Versorgung rigoros um, verbannte Ketten und Ochsenziemer aus der Einrichtung und verwandelte das Zuchthaus allmählich in ein menschenwürdiges Hospital. Sein Humanismus indes wurde ihm am Ende zum Verhängnis.

Als er am 16. April 1849 in seinem Arbeitszimmer einen Patienten zum persönlichen Gespräch empfing, attackierte der ihn mit einem Messer und stach ihm so tief in den Unterleib, dass Amelung drei Tage später seinen Verletzungen erlag.

Tragisches Ende des Reformators

Das Tatmesser liegt heute in einer Vitrine neben einem Portrait des Opfers und allerlei von einstigen Insassen der Anstalt selbst gefertigten Ausbruchswerkzeugen. Zusammen mit vielen anderen Exponaten des Psychiatriemuseums Riedstadt erinnert es an eine Zeit, da Gewalt zum Alltag psychiatrischer Einrichtungen gehörte.

Zugleich jedoch offenbart sich der enorme Wandel, den die Psychiatrie in den vergangenen Jahrhunderten erlebt hat, umso mehr da das Museum auf dem Gelände eines der weltweit ältesten psychiatrischen Einrichtungen untergebracht ist, dem vom Landeswohlfahrtsverband und der Vitos GmbH betriebenen Philippshospital in Riedstadt, dem Geburtsort von Georg Büchner, dessen Vater Ernst Karl Büchner von 1812 bis 1815 als Chirurg und dessen Großvater Johann Georg Reuß von 1797 bis 1815 als Spitalmeister im Hospital tätig waren.

„Es ist tatsächlich erstaunlich, wie sich die Psychiatrie in den vergangenen Jahrhunderten verändert hat“, sagt Peter Gomes, der im Philippshospital seit 26 Jahren als Krankenpfleger tätig ist und seit sechs Jahren das Museum im Haus 8 des 25 Hektar großen Klinikgeländes betreut. Wenn er Patienten herumführe, könnten die es oft kaum fassen, wie der Alltag früherer Insassen ausgesehen hat – angefangen von der täglichen Zwangsarbeit bis hin zur grausamen „Therapie“.

30 Patienten in einem Zimmer

Bevor Amelung seinen Dienst antrat, kannte das Hospital nur die Trennung zwischen ruhigen und unruhigen sowie weiblichen und männlichen Insassen. Bis zu 30 Patienten schliefen in einem Raum, sie mussten von 5.30 Uhr bis 18.30 Uhr in der klinikeigenen Weberei, Sattlerei, Schuhmacherei, Schmiede, Korbflechterei, Metzgerei oder auf dem Feld arbeiten, um ihren Aufenthalt mitzufinanzieren.

Die Türen waren verriegelt, die Fenster vergittert, die Pfleger hießen Wärter und benahmen sich genauso. Patienten, die tobten, wurden entweder in einen Zwangsstuhl gesetzt, mit eisernen Hand- und Fußschellen ans Bett gekettet, in eine (unter Umständen von ihnen selbst hergestellte) Zwangsjacke gesteckt oder für Stunden, mitunter Tage in eine Badewanne gesetzt, um sie ruhig zu stellen. Viele Patienten verbrachten Jahre im Hospital, manche sogar ihr halbes Leben.

Mit den Entwicklungen in der Pharmakologie konnten Patienten spezifisch therapiert werden, womit sich in der Psychiatrie ein großer Wandel vollzog. Heute werden Patienten mit Depressionen, Psychosen, Neurosen, Phobien oder Abhängigkeiten gemäß ihrer Erkrankung behandelt und betreut.

Sie schlafen in Zweibettzimmern, müssen nicht mehr, sondern dürfen arbeiten, um sich ein Taschengeld zu verdienen, die Fenster sind nicht mehr vergittert, die Wärter heißen Pfleger und benehmen sich genauso. Der Aufenthalt von Patienten ist meist auf wenige Tage oder Wochen begrenzt.

Der „Patient“ Günter Wallraff

Die ältesten Bestände des Museums und des angeschlossenen Archivs sind Urkunden zur Stiftung durch Landgraf Philipp, Hospitalordnungen und Rechnungsbücher, historische Baupläne, Monografien, Sammelbände und Zeitschriften zur Psychiatriegeschichte, Dokumente zu Therapiekonzepten sowie Personal- und Patientenakten.

Unter letzteren befindet sich auch die Krankenakte des Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff, der sich 1967 als vermeintlicher Alkoholiker selbst einweisen ließ, um die Zustände in Psychiatrien aufzudecken, nach einer Woche aber aufgab, nicht zuletzt weil er Angst hatte, nicht mehr herauszukommen.

70 Jahre vor Wallraff erlitt eine Patientin eben jenes Schicksal. Anna Maria Morgenroth hatte sich von ihrem Ehemann scheiden lassen und Ansprüche auf die ihr durch Güterteilung zugefallenen Weinberge, Äcker und Viehbetriebe angemeldet, worauf ihr Ex-Gatte sie 1897 zwangseinweisen ließ. Die damals 42-Jährige verbrachte daraufhin 22 Jahre im Philippshospital, wo sie am 7. September 1919 starb.

Viele Reformen von Hospitalarzt Dr. Ludwig Franz Amelung leben im Philippshospital fort. Mit einer Neuerung indessen war nicht jeder seiner Patienten einverstanden: Bis zu seinem Amtsantritt wurde das in der hospitaleigenen Brauerei hergestellte Bier auch an die Insassen ausgeschenkt, um sie zu beruhigen. Dies untersagte der Arzt.

Psychiatriemuseum

  • Besichtigung nur nach vorheriger Anmeldung.
  • Ansprechpartner ist Museumsleiter Peter Gomes, Telefon 06158-183729, Email: museum@vitos-riedstadt.de.
  • Adresse: Landeswohlfahrtsverband Hessen, Spital Museum (Haus 8), Philippshospital, 64560 Riedstadt.
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