Autismus

Warum blaue Nudeln weiß sein können

Allgemeinmedizinerin und Psychotherapeutin Dr. Christine Preißmann hat Asperger. In einem Buch gibt sie jetzt Antworten für Autismus-Patienten – zum Beispiel bei Fragen rund um Ernährung und Sexualität.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Dr. Christine Preißmann

Dr. Christine Preißmann

© privat

FRANKFURT/MAIN. Der Alltag eines Autisten ist vor allem eines: stressig. Menschenansammlungen, kreuzende Fahrräder und Autos, Lärm, unerwarteter Besuch – selbst ein Eis beim Italiener um die Ecke gerät zur Herausforderung, da man sich anstellen, zwischen einer Unzahl an Sorten wählen, unter Zeitdruck bestellen und bezahlen muss, da hinter einem schon die nächsten Kunden warten. Wie geht ein Betroffener mit diesem Stress um? Wie seine Eltern? Wer oder was könnte ihm helfen?

Solche Fragen beschäftigen Dr. Christine Preißmann, Allgemeinmedizinerin und Psychotherapeutin aus Dieburg, seit vielen Jahren. Selbst Asperger-Autistin, weiß sie am besten, wie man sich in Situationen wie den oben beschriebenen fühlt.

Jetzt hat sie ein neues Buch geschrieben, das Betroffenen vor allem dabei helfen soll, ihren Alltag zu meistern – nicht nur bei scheinbar banalen Verrichtungen wie dem Kauf einer Kugel Eis, sondern darüber hinaus bei Fragen rund um die Ernährung, Hygiene, Sexualität, Partnerschaft, Sport und Entspannung.

Mit ihrem Ratgeber "Autismus und Gesundheit" will Christine Preißmann vor allem die Ressourcen Betroffener sowie ihrer Familien stärken.

Ein universelles Menschenrecht

Das Recht auf Gesundheit, schreibt die Ärztin im Vorwort, sei ein universelles Menschenrecht, schon 1948 im Rahmen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben. Dieses Recht schließe den ungehinderten Zugang zu den Einrichtungen des Gesundheitswesens ein.

Bedingt durch oftmals zu geringe Kenntnisse über Autismus-Spektrum-Störungen (Asperger-Syndrom, frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus) und knappe Zeitbudgets in den Praxen, werde Betroffenen jedoch häufig die notwendige medizinische Versorgung verwehrt.

Immer wieder ausgegrenzt

Ausgrenzung hat Christine Preißmann in ihrer Kindheit selbst oft erfahren müssen. 1970 im hessischen Dieburg geboren, galt sie in der Schule als Sonderling. Mitschüler lachten über ihre vermeintlichen Schrullen, Lehrer fühlten sich ihrer Aufsässigkeit wegen provoziert. Einsam habe sie sich gefühlt, sagt sie rückblickend, und unverstanden.

Die Pausen verbrachte sie zumeist im Klassenzimmer, weil sie die chaotischen Zustände auf dem Schulhof nicht ertrug. Kontaktschwierigkeiten habe sie auch heute noch, ebenso Probleme mit Veränderungen und ein mangelndes Sprachverständnis – tatsächlich nimmt sie die Menschen beim Wort, die sich dann wundern, wenn sie mit ihnen beispielsweise "Pferde stehlen" will.

Autisten brauchen die besondere Fürsorge ihnen nahestehender Menschen. Das fängt mit der Körperhygiene an. Christine Preißmann beschreibt den Fall eines Zwölfjährigen, der sich lange Zeit weigerte, seine Socken zu wechseln. In einem Gespräch stellt sich heraus, dass der Junge die frischen Socken als kalt und unangenehm empfindet. Die Lösung: Frische Socken werden nun grundsätzlich angewärmt.

Auch die Ernährung autistischer Kinder stellt Eltern vor Herausforderungen. So ist es nicht selten, dass Betroffene ausschließlich Speisen in einer bestimmten Farbe essen. Lebensmittelfarbe kann da schon helfen. Manchmal auch ein kleiner Trick: "Das sind blaue Nudeln, nur weiß", erklärte eine Betreuerin einem autistischen Kind, das sich mit dieser Erklärung zur Überraschung aller zufrieden gab.

Furcht vor Hautkontakt

In punkto Sexualität ist die Sache meistens komplizierter, aber auch hier gibt es praxisorientierte Lösungen: Einem Autisten, der Hautkontakt fürchtet, kann schon helfen, beim Sex sein T-Shirt anbehalten zu dürfen; schwer zugängliche Patienten finden unter Umständen Erfüllung bei einer Sexualbegleiterin.

Auch für eventuelle Arztbesuche hat Christine Preißmann wertvolle Tipps parat. So empfehle es sich beispielsweise, den neuen Arzt im Vorfeld des Besuchs über die Besonderheiten des Patienten zu informieren und am besten Termine immer zu Beginn oder Ende einer Sprechstunde zu vereinbaren, um Wartezeiten zu vermeiden. "Und es ist sinnvoll zu erklären, dass wir manchmal abweisend und schroff wirken, wenn wir aufgeregt sind. Das muss man nicht persönlich nehmen – aber es ist wichtig, dass man es weiß."

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