Interview zu Adipositas

"Dicke stigmatisieren sich allzu oft selbst"

Warum werden Dicke gesellschaftlich stigmatisiert? Dr. Johannes Oepen vom Adipositasnetzwerk Rheinland-Pfalz erläutert im Interview die Gründe – und was Betroffene dagegen tun können.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Übergewichtige werden oft ausgegrenzt – nicht nur als Kinder, sondern auch im Erwachsenenalter.

Übergewichtige werden oft ausgegrenzt – nicht nur als Kinder, sondern auch im Erwachsenenalter.

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Dr. Johannes Oepen: Der Song war eine Überspitzung, und Ironie ist eine schwierige Sache, aber immerhin hat er deutlich gemacht, dass das Klischee des lustigen Dicken nicht stimmt. Auch heute ist Dicksein mit vielfältigen, vor allem seelischen Belastungen verbunden, was im Alltag oft die schlimmste Verzweiflung nach sich zieht.

Dr. Johannes Oepen

©Viktoriastift

  • Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin,
  • Ärztlicher Direktor des Viktoriastifts in Bad Kreuznach
  • Vorsitzender des Adipositasnetzwerks Rheinland-Pfalz

Das gehört zur Krankheit Adipositas dazu: Die vermeintlich glücklichen oder gar gesunden Dicken sind wie weiße Raben. Ja, die gibt es, aber die schwarzen sind sehr viel häufiger!

Diskriminiert werden in der Regel Minderheiten. Inzwischen ist es aber so, dass zwei Drittel der deutschen Männer übergewichtig und ein Viertel aller erwachsenen Bundesbürger adipös sind – könnte man daraus nicht ableiten, dass es heute im Vergleich zu den eher schlanken 1970-er Jahren eine größere gesellschaftliche Akzeptanz fürs Dicksein gibt?

Oepen: Stimmt, Minderheiten werden am ehesten gedisst, wie die Jugendlichen das nennen, also gedemütigt und ausgeschlossen. Aber auch hochnäsige Minderheiten polieren durch Abwertung anderer den eigenen Wert auf.

"Mit Dicken macht man gerne Späße", heißt es in Müller-Westernhagens Song "Dicke" – die Diskriminierung und Stigmatisierung Adipöser reicht jedoch weit darüber hinaus. Welche Stereotypen schreibt man Dicken zu?

Oepen: Dicke sind selbst schuld, faul, ohne Ehrgeiz, nicht leistungsfähig. Wie im Lied wird Schwitzen nicht als Ausdruck von Anstrengung, sondern Folge eines selbst verschuldeten Verhaltens angesehen und ist damit Teil der Abwertung. Stigmatisiert wird im Alltag oft auch gedankenlos, weil Dicke eben wunderbare Zielscheiben sind.

Dass dicke Kinder in der Schule gehänselt und gemobbt werden, ist bekannt, weniger vielleicht, dass auch viele Erwachsene aufgrund ihres Gewichts ausgegrenzt und benachteiligt werden. Wie äußert sich das beispielsweise am Arbeitsplatz?

Zum Beispiel setzen manche Firmen Übergewichtige nicht im Kundenkontakt ein. Sie werden also in der beruflichen Teilhabe benachteiligt. Manchmal reichen auch schon Blicke und abschätzige Mienen der Kollegen.

Wie reagieren Adipöse auf negative Stereotypen?

Oepen: Sie nehmen die Abwertung unterschwellig, aber dauerhaft wahr. Das ist zermürbend, sie werden immer empfindlicher gegenüber Herabsetzung, vermuten oft sogar bei unbedachten Bemerkungen Absicht, weshalb sie schnell als überempfindlich gelten.

Wenn einem einer mit dem Fingerknöchel mäßig fest auf den Oberarm klopft, ist das gut auszuhalten, nur wenn es andauernd geschieht, wird der Schmerz immer stärker und nimmt die Empfindlichkeit zu. Gerade dicke Kinder reagieren auf die andauernden Hänseleien und Beschimpfungen wie "du fette Sau" oft mit sozialem Rückzug.

Eine dem Vorurteil immanente Tragik ist ja, dass sich Betroffene jenes irgendwann selbst zu Eigen machen. Trifft das auch auf Adipöse zu?

Oepen: Ja, viele stigmatisieren sich selbst, oft ohne es zu merken, sagen beispielsweise "Ich bin zu faul" statt zu differenzieren in "Diese Anstrengung kann ich schaffen, diese nicht". Oder sie empfinden es selbst als eklig, dass sie schwitzen.

Um dem entgegenzuwirken, haben wir im "Adipositasnetzwerk Rheinland-Pfalz" vor einigen Jahren die Kampagne "Komm schwitz mit mir!" ins Leben gerufen. Schwitzen ist medizinisch ja eher positiv zu bewerten.

Was sind die Folgen der Selbststigmatisierung?

Oepen: Inaktivität und Mutlosigkeit werden verstärkt, manchmal reagieren Betroffene darauf auch noch mit einer Depression – das ist ein Teufelskreis!

Sie haben die Erfahrung gemacht, dass selbst Ärzte negative Einstellungen gegenüber Übergewichtigen haben.

Oepen: Ja, beispielsweise indem wir ihnen sagen: "Sie essen zu viel, wenn Sie nicht abnehmen, werden Sie krank", gefolgt von der sachlich korrekten Aufzählung möglicher Folgeerkrankungen.

Damit tun wir so, als stünde das Körpergewicht unter der Kontrolle des Einzelnen, und setzen höheres Gewicht mit ungesundem Lebensstil gleich, ohne Faktoren wie Angebot, Werbung, Genetik, Sarkopenie, Armut, Gewohnheitsbildung oder Darmbesiedlung hinreichend einzubeziehen.

Wirkt sich das auch auf die Qualität der medizinischen Versorgung aus?

Oepen: Tatsächlich werden die Beschwerden Betroffener manchmal nicht ernst genommen oder Symptome ihrem Übergewicht zugeschrieben, weshalb weitere Untersuchungen unterbleiben.

In großen medizinischen Studien sind chronisch kranke Menschen, wozu ja auch Adipöse gehören, in der Regel ausgeschlossen, mit der Folge, dass die Ergebnisse der Studien – etwa zur Dosierung von Antibiotika oder Chemotherapien – eigentlich nicht auf Adipöse anwendbar sind.

Es heißt, dass Therapeuten Adipösen weniger Behandlungszeit einräumen, weil sie eh nicht an die Motivation und Compliance dieser Patienten glauben – sind das Einzelfälle?

Oepen: Soziologische Daten dazu liegen mir nicht vor, aber entsprechende Berichte sind mir mehrfach zu Ohren gekommen. Im Umgang mit Adipositas sind Kollegen oft ratlos und greifen zu "Illustrierten-Ratschlägen", wie ich das nenne.

Besser wäre beispielsweise die Zusammenarbeit mit einem Verhaltenstherapeuten oder eine Ausbildung in motivierender Gesprächsführung – die ja auch schon von vielen Kollegen praktiziert wird.

Lange hieß die vermeintliche Zauberformel "Weniger/gesünder essen, mehr bewegen" – ist dieser Rat im Lichte jüngerer Forschungsergebnisse noch zeitgemäß?

Oepen: Grundsätzlich gilt noch immer: Man wird nicht dick, wenn man nur so viel zu sich nimmt, wie man verbraucht. Heute wissen wir aber viel mehr über die zugrunde liegenden Faktoren der Überernährung wie Disposition, Lerngeschichte, Angebot, soziale Schicht und Einsamkeit auf der einen Seite und die komplexe Steuerung von Nahrungsaufnahme auf der anderen Seite, etwa die Appetitsteuerung vom Magen aus, Stichwort Ghrelin, und die Darmbakterienbesiedlung.

Statt pauschaler Ratschläge könnte man künftig stärker auf personalisierte Ernährungsempfehlungen setzen. Überlegt wird auch, wie sich über eine Therapie im Darm unser Essverhalten steuern lässt.

Aber wir müssen uns auch als Gesellschaft fragen, ob wir uns nicht insgesamt umstellen wollen, etwa häufiger aufs Auto verzichten oder weniger Fleisch essen wollen. Glauben Sie, dass wir Durchschnittsmenschen die rationale Erkenntnis, dass dies richtig ist, in unserem Alltag umsetzen? Genauso oft oder selten wie Übergewichtige Ratschläge zum Abnehmen.

Was halten Sie von bariatrischen Operationen?

Oepen: Die sind ganz wichtig! Interessant ist sogar die Frage, ob gering Betroffene gleichsam vorsorglich operiert werden sollen, um ihren Stoffwechsel zu verbessern. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass es sich dabei um eine verstümmelnde Operation handelt und es ohne eine akribische Ernährungs-Beratung sowie ein entsprechendes Monitoring neue Probleme geben kann.

Am Viktoriastift bieten Sie unter anderem auch Rehamaßnahmen für adipöse sowie übergewichtige Kinder und Jugendliche an. Mit Erfolg?

Oepen: Im Hinblick auf die Gewichtsentwicklung gibt es leider keine fünf Jahreszahlen, die wir für eine klare Aussage brauchen. Es geht aber auch weniger um Gewicht als um Gesundheit.

Eine Nachkontrolle mit unserer wissenschaftlichen Partnerin, Professor Petra Warschburger von der Uni Potsdam, ergab, dass sich bezüglich der Lebensqualität und Selbstwirksamkeit der Betroffenen durchaus positive Effekte zeigen. Dies in einer Follow-up-Studie weiter verfolgen zu können, wäre wissenschaftlich für mich ein Traum.

Lesen Sie dazu auch: Vorurteile gegen Dicke: Beleidigt, gemobbt, diskriminiert

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