Herbst 1998: Rot-grüner Aufbruch?

Machtwechsel in Bonn: Nach 16 Jahren schicken die Wähler den Einheitskanzler Helmut Kohl in den Ruhestand, Union und FDP in die Opposition. Für Gerhard Schröder ist Gesundheitspolitik "Gedöns" - eine Sache für die Grüne Andrea Fischer.

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Bonn, September/Oktober 1998. Das Eingeständnis war überfällig: "Irgendwann fehlen einem die neuen Ideen."

Fast erleichtert nimmt Horst Seehofer im Oktober Abschied als der bis dato am längsten amtierende Bundesgesundheitsminister.

Wie desillusioniert Seehofer ist, zeigt sich an einer Sachentscheidung: Mit der neuen rot-grünen Koalition stimmt er für die Abschaffung der Kostenerstattung beim Zahnersatz, die er selbst zuvor eingeführt hat.

Seine bittere Erkenntnis: "Das Instrument der Kostenerstattung darf nur denen gegeben werden, die damit auch verantwortlich umgehen können."

Lähmender Stillstand am Ende der Ära Kohl

Im Herbst 1998 geht die Ära Helmut Kohl zu Ende - und das zeichnet sich seit langem ab. Kohl sieht sich längst als geschichtliche Figur: mit der Schaffung der deutschen Einheit und als einer der Väter des Euro hat er sich seinen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert.

Seine letzten Jahre sind ein Beharren in der Macht, aber die Kraft zu dringend notwendigen Reformen wird nicht mehr gefunden. Die Bürger sind seiner überdrüssig.

Auch die niedergelassenen Ärzte wollen den Wechsel, obwohl sie von einer SPD-geführten Koalition nichts Gutes erwarten. Eine Repräsentativumfrage kurz vor den Wahlen zeigt, dass 50 Prozent einen Machtwechsel wollen, 41 Prozent sind dagegen.

Sie fühlen den Stillstand, der inzwischen das Markenzeichen der Kohl-Koalition geworden ist. Auf die Frage: "Welche Konsequenzen für das Gesundheitswesen erwarten Sie bei folgenden Koalitionen?", sagen fast 50 Prozent der Ärzte, bei einer schwarz-gelben Koalition komme es zum Stillstand.

Weniger als 20 Prozent erwarten dies im Fall einer rot-grünen Koalition. Aber die Erwartungen sind ambivalent: 20 Prozent der Ärzte erwarten bei Rot-Grün eine Verschlechterung, zehn Prozent neue Restriktionen.

Die Ärzte würden den Wechsel wollen, zugleich fürchten sie sich aber auch vor Eingriffen - und nicht zu Unrecht, wie sich noch im gleichen Herbst zeigen soll.

Der 27. September 1998 wird erwartungsgemäß zum Debakel für Helmut Kohl: Die Union stürzt um 6,3 Prozentpunkte ab und kommt auf 35,1 Prozent, die FDP verliert 0,7 Prozentpunkt und erhält 6,2 Prozent der Stimmen, die SPD macht 4,5 Prozentpunkte gut und wird mit 40,9 Prozent stärkste Fraktion - sie kann mit den Grünen (6,7 Prozent) eine Koalition bilden. Gerhard Schröder wird Bundeskanzler.

Warum Rudolf Dreßler nicht Gesundheitsminister wird

Für ihn spielt die Gesundheitspolitik eine untergeordnete Rolle. Prägend für die Ära Schröder wird vielmehr eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Ab 2003 wird sie als Agenda 2010 berühmt und hat ihren Ausgangspunkt in den liberalen Thesen des Schröder-Blair-Papiers 1999 und in der Lissabon-Strategie von 2000.

Mit ihr sollte Europa zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" werden.

Schröders Vorstellungen vom Umbau des Sozialstaates passen wenig zur tradierten SPD-Sozialpolitik - was im Herbst 1998 vorerst nur in den Personalentscheidungen offenkundig wird.

Darum wird der SPD-Chef-Gesundheitspolitiker Rudolf Dreßler nicht Gesundheitsminister. Er zählt zu den links gestrickten Traditionalisten der SPD-Fraktion und wird später Botschafter in Israel.

Das Gesundheitsministerium geht an die Grünen, neue Ministerin wird die weithin unbekannte Andrea Fischer.

Die damals 38-jährige gelernte Druckerin hat Volkswirtschaft studiert, sich mit sozialer Grundsicherung in Europa befasst und gilt als Rentenexpertin - von Gesundheitspolitik hat sie nach eigenem Eingeständnis "keine Ahnung".

Programmatisch bleibt die Gesundheitspolitik von Rot-Grün noch im Nebel - außer dass Teile der Neuordnungsgesetze korrigiert werden sollen. Deutlich fällt das Plädoyer für eine gestärkte Rolle der Hausärzte aus.

Dazu stammt vom damaligen Vorsitzenden des Hausärzteverbandes, Dr. Klaus Dieter Kossow, das Bonmot: "Die rot-grüne Koalitionssuppe wird nach der Wahl das gehaltvollste Gericht." (HL)

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