Paul-Ehrlich- und Ludwig-Darmstaedter-Preis verliehen

Durcheinander beim Super-Nano-Origami

Mit dem Paul-Ehrlich- und Ludwig-Darmstaedter-Preis sind in diesem Jahr ein deutscher und ein USamerikanischer Forscher ausgezeichnet worden, die aufgedeckt haben, wie es in Zellen zu Eiweißverklumpungen kommt, die Ursache für neurodegenerative Erkrankungen sind.

Peter LeinerVon Peter Leiner Veröffentlicht:
Die Gemeinsamkeit einiger neurodegenerativer Erkrankungen wie die Alzheimer-, Parkinson- und Huntington-Krankheit ist die Verklumpung von Proteinen in Neuronen.

Die Gemeinsamkeit einiger neurodegenerativer Erkrankungen wie die Alzheimer-, Parkinson- und Huntington-Krankheit ist die Verklumpung von Proteinen in Neuronen.

© ktsdesign / stock.adobe.com

Es war reine Wissensbegierde, die die Forschungen der diesjährigen Paul-Ehrlich-Preisträger Professor Franz-Ulrich Hartl aus München und Professor Arthur L. Horwich aus New Haven zunächst antrieb. Sie wollten wissen, wie Eiweißmoleküle in der Zelle durch Faltung ihre endgültige Form erhalten.

Das frühere Dogma, aufgestellt von Christian Anfinsen, Nobelpreisträger in Chemie von 1972, lautete: Die Reihenfolge der Bausteine bestimmt die spontane, selbstständige Faltung eines Polypeptids. Nach Angaben von Hartl hat ein langer Peptidfaden 10 hoch 30 Möglichkeiten der Faltung, aber nur eine einzige Faltungsstruktur sei die für die Proteinfunktion korrekte Form. Für Hartl ein Super-Nano-Origami in der Zelle.

Wissen und intellektuelle Freiheit

Dass Fehlfunktionen bestimmter Proteine, die die Faltung unterstützen können, mit die Ursache neurodegenerativer Erkrankungen wie Amyotrophe Lateralsklerose, Alzheimerkrankheit und Morbus Parkinson sind, weil es zu Verklumpungen kommt, kam den beiden Forschern erst im Laufe der Jahre in den Blick.

Die gewonnenen Einsichten seien nur möglich gewesen, weil die beiden Wissenschaftler „das notwendige Wissen, die geistige Vorstellungskraft und die intellektuelle Freiheit besaßen, jenseits des gültigen Dogmas das Faltungsproblem radikal neu zu denken und es folglich in ebenso unerwarteter Weise zu lösen“, so Professor Thomas Boehm, Vorsitzender des Stiftungsrats der Paul-Ehrlich-Stiftung, bei den Feierlichkeiten zur Preisverleihung in Frankfurt am Main.

Ihre „innovative und ausgesprochen kreative Sicht auf diese fundamentalen Naturphänomene eröffne ein grundlegend neues Verständnis so unterschiedlicher Krankheiten wie Mukoviszidose oder Neurodegeneration“ und weise auf neue Therapiestrategien hin.

Schon Anfang der 1970er-Jahre haben andere Forscher beobachtet, dass in Experimenten mit Viren, die Bakterien befallen, wegen einer Mutation deformierte – und wie man jetzt weiß verklumpte – Eiweißmoleküle entstanden. Die Forscher seien damals ganz nah an der Lösung dran gewesen, so der Pädiater Horwich, der heute am „Boyer Center for Molecular Medicine“ an der Yale-Universität in New Haven arbeitet, im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“. Schließlich wurde Ende der 1970er-Jahre in Bakterien eine Doppelringstruktur aus Proteinen vorgefunden, deren Funktion zunächst unbekannt war.

Hilfe durch Kernresonanzmessung

Jahre später entdeckten Horwich und seine Kollegen mithilfe von Rekonstitutionsexperimenten, dass langgestreckte Polypetidfäden in dieses System hineingelangen und korrekt gefaltet wieder herauskommen. „Man hatte damals keine Vorstellung davon, was im Innern geschieht“, sagte Horwich.

Hilfe bei der Strukturaufklärung kam vom Schweizer Biophysiker, Strukturbiologen und Chemie-Nobelpreisträger von 2002 Kurt Wüthrich aus Zürich, der seine Expertise bei der Anwendung der Kernresonanzspektroskopie zur Verfügung stellte. Aus den schwierigen Experimenten ging schließlich hervor, dass die Ringstruktur einen Deckel besaß, und dass die Proteinfäden tatsächlich vollkommen ungefaltet ins Innere des Käfigs gelangten.

Ein Raum für ungestörte Faltung

„Die Experimente hätten wir ohne Kurt nicht machen können.“ Durch den aufgesetzten Deckel entsteht quasi ein geschützter Raum, in dem die korrekte Faltung zum funktionierenden Protein abläuft und aus dem das gefaltete Protein dann entlassen wird.

Als „jack in the box“ – also als Springteufelchen – bezeichnet Horwich das System. Paul Ehrlich hat den Begriff „Zauberkugel“ geprägt. In seiner Dankesrede meinte Horwich, Ehrlich „könnte amüsiert gewesen sein, über die Entdeckung von ,Zauberringen‘ als molekulare Maschinen in Zellen nachzudenken, die die Faltung von Proteinen in ihre aktive Form vermitteln könnten“.

Die bei der Faltung hilfreichen Proteine werden als Chaperone bezeichnet, was – abgeleitet aus dem Französischen – Anstandsdame bedeutet. Der Begriff wurde von dem britischen Biochemiker R. John Ellis geprägt, der erstmals die Bezeichnung Chaperonin für die Ringsystemstruktur verwendete. „Chaperone“ umfasst dagegen alle Proteinfaltungshelfer, wie Horwich erläuterte.

Medizinische Bedeutung erkannt

Die grundlegenden Experimente haben Horwich und Hartl gemeinsam gemacht. Sie führten Ende der 1980er-Jahre zu der überraschenden Entdeckung, dass eine korrekte Faltung von Polypeptidketten auf die Hilfe von Chaperonen angewiesen ist.

Das Hitzeschockprotein Hsp70 ist ein anderes Chaperon, das sich schon während der Synthese an Ribosomen an eine wachsende Eiweißkette hängt und diese an das gefäßartige Chaperonin geleitet, wenn sie nicht zuvor ihre endgültige 3D-Form erreicht hat. Dadurch wird nach Angaben von Hartl verhindert, dass noch ungefaltete Proteine miteinander zu Aggregaten verklumpen.

In der Folgezeit haben die Wissenschaftler die medizinische Bedeutung der molekularen Chaperone bei der Entstehung neurodegenerativer Krankheiten wie Alzheimer-Demenz, Morbus Parkinson und Chorea Huntington erkannt. Diese sind ursächlich mit der Bildung und Ablagerung von Proteinaggregaten verknüpft. Hartl: „Es besteht die berechtigte Hoffnung, dass die Aufklärung der zellulären Proteinfaltung und Protein-Qualitätskontrolle zu neuen Therapieansätzen führen wird.“

Arzt und Biochemiker

Tatsächlich ist der Arzt und Biochemiker Hartl, der seit 1997 Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie in München ist, entsprechenden Präparaten auf der Spur. Ihm und seinen Kollegen schwebt vor, eine Möglichkeit zu finden, um Zellen anzuregen, vermehrt Chaperone zu bilden. Der Ansatz wäre allerdings nicht krankheitsspezifisch, sondern könnte für ein breites Spektrum von neurodegenerativen Erkrankungen verwendet werden.

„Aber da sind wir noch nicht so weit. Wir wissen nur, dass es im Prinzip möglich sein sollte, weil wir solche Substanzen schon gefunden haben“, so Hartl zur „Ärzte Zeitung“. Geldanamycin sei eine Substanz, die in Zellkultur die Verklumpung des Huntington-Proteins, des Huntingtins, verhindere. Sie aktiviert manche Chaperone.

Süchtig nach Chaperonen

Aber die Substanz sei zugleich auch Hemmstoff eines bestimmten anderen Chaperons. Daher sei sie im Zusammenhang mit der Therapie bestimmter Tumoren interessant, weil dort dieses Chaperon gebraucht werde, um Proteine zu falten, die für das Tumorwachstum ausschlaggebend seien.

„Sie sind praktisch süchtig nach Chaperonen.“ Das bedeute, es sei möglich, Wachstum und Vermehrung von Krebszellen zu bremsen, wenn dieses spezifische Chaperon gehemmt werde. Klinische Erprobungen mit der Substanz seien bereits im Gange.

Großes Quantum Glück

Beiden Forschern war in ihrer Forscherkarriere das Glück hold. „Ein großes Quantum an Glück, über mehrere Einzeldosen verteilt“, sei überwiegend dafür verantwortlich gewesen, dass ihnen Ende der 1980er-Jahre die überraschende Entdeckung im Zusammenhang mit der Proteinfaltung gelungen sei, so Hartl in seiner Dankesrede bei der Preisverleihung. Es sei richtig, betonte Horwich, was Louis Pasteur gesagt habe: Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist. „Aber ich denke, vieles in der Wissenschaft ist einfach Glückssache.“

Das sei zum Beispiel der Fall gewesen, als er mit seinen Kollegen versuchte, für die Strukturaufklärung das Chaperon GroEL aus Bakterien, das dem Hitzeschockprotein Hsp60 in menschlichen Zellen homolog ist, zu kristallisieren. Viele Forscher hätten das damals versucht. Keinem sei es gelungen, außer seiner Gruppe – es habe drei Jahre gedauert. „Das war großes Glück, es hätte auch noch Jahre lang erfolglos weitergehen können.“

Schon 23 Nobelpreisträger

Der Paul-Ehrlich- und Ludwig-Darmstaedter-Preis wird seit 1952 an Wissenschaftler verliehen, die sich auf den von Paul Ehrlich vetretenen Forschungsgebieten besondere Verdienste erworben haben, vor allem in der Immunologie, Krebsforschung, Hämatologie, Mikrobiologie und Chemotherapie. Nach Angaben der Paul-Ehrlich-Stiftung wird der Preis vom Bundesgesundheitsministerium und dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller sowie durch zweckgebundene Spenden finanziert.

Bis heute sind 23 Preisträger auch mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden, zuletzt im Jahr 2018 Professor James Allison vom MD Anderson Cancer Center in Houston für die Entdeckung der Checkpointhemmung als Krebstherapie. Allison teilte sich im Jahr 2015 den Paul-Ehrlich-Preis mit Professor Carl June von der Perelman School of Medicine an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia.

Lesen Sie dazu auch: Nachwuchspreisträgerin Dr. Dormann im Gespräch: Proteinverklumpung in Neuronen im Visier

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