Medica Mondiale

Wenn Traumata „vererbt“ werden

Traumata können von Müttern an die nächste Generation weitergegeben werden, wenn eine Behandlung unterbleibt, warnt die Organisation Medica Mondiale.

Anne-Christin GrögerVon Anne-Christin Gröger Veröffentlicht:

KÖLN. 25 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda leben heute zwischen 2000 und 5000 junge Menschen in dem Land, die durch eine Kriegsvergewaltigung gezeugt wurden.

Durch die schweren Traumata, die ihre Mütter damals erlitten haben, sind die jungen Leute in einer Atmosphäre des Schweigens und der Scham aufgewachsen. Viele haben Probleme, selbstbewusst im normalen Leben zurechtzukommen. Sie werden häufig von ihrer Umwelt als Kinder der „Völkermörder“ stigmatisiert und als „Kinder des Feindes“ angesehen.

Seit 2016 bietet ihnen die Organisation SEVOTA Hilfe an: In speziellen Camps, Gesprächsrunden und Foren können die jungen Leute das Schweigen brechen, ihre Probleme thematisieren und so die schlimmen Erfahrungen ihrer Mütter überwinden.

In 13 Ländern im Einsatz

„Wenn Traumata nicht schnellstmöglich therapeutisch behandelt werden, werden sie an die nächste Generation weitergegeben, und das Leiden geht weiter“, sagte Dr. Katharina Drexler, Ärztin für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie aus Köln, bei einer Podiumsdiskussion zum Thema „Vererbte Geschichte(n) – Kriegsvergewaltigungen und transgenerationale Traumatisierung“ der Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale.

SEVOTA ist Partnerorganisation von Medica Mondiale, die die Gynäkologin Dr. Monika Hauser 1993 gegründet hatte, um den im Bosnien-Krieg massenhaft vergewaltigten Frauen und Mädchen zu helfen.

Heute ist die Organisation in 13 Ländern im Einsatz, und Trauma-Arbeit und die psychosoziale Beratung von Betroffenen und deren Familien sind zu einem der Schwerpunkte ihrer Tätigkeiten geworden. Hauser betonte, dass Vergewaltigungen schon seit langer Zeit als systematische Kriegswaffe eingesetzt werden, um den Gegner zu treffen.

Sie würden aber nach wie vor als Kollateralschaden angesehen und selten verfolgt. Für die betroffenen Frauen sei besonders schlimm, dass das erlebte Unrecht von der Gesellschaft bagatellisiert oder ignoriert werde.

Lebenslange Traumatisierung

„Häufig wird den Frauen die Schuld gegeben, sie werden im schlimmsten Fall von ihren Familien verstoßen oder erfahren, wenn ihre Familien sie immerhin unterstützen, ein gesellschaftliches Stigma“, sagte Hausers Mitstreiterin Sabiha Husic, Leiterin von Medica Zenica aus der Stadt Zenica in Zentralbosnien.

Sexualisierte Gewalt hat massive und lang anhaltende gesundheitliche, psychische und soziale Folgen für die Betroffenen, sie sind oft ein Leben lang traumatisiert. Das war der Tenor der Veranstaltung. Betroffen sind nicht nur die Frauen selbst, sondern auch ihre Familien.

Das Aufarbeiten dieser Erlebnisse sei die Voraussetzung dafür, dass Frauen und Mädchen Heilung erfahren könnten, sagte Drexler, die ein Buch über die Therapie von transgenerationalen Traumata geschrieben hat. Medica Mondiale-Gründerin Hauser betonte, dass sexuelle Gewalterlebnisse kein Thema sind, die nur im Ausland geschehen, sondern auch in Deutschland vorkamen und nach wie vor vorkommen.

„Das Bild vom bösen Serben oder bösen Afghanen ist hierzulande eine Ausrede, um die Verantwortung von sich zu weisen“, sagte sie.Auch hierzulande waren und sind Frauen und Mädchen von sexueller Gewalt betroffen. „In Deutschland hat jede zweite oder dritte Frau Gewalterfahrungen, auch in der deutschen Geschichte kommt sexuelle Gewalt sehr oft vor.“

Als Beispiele nannte sie Missbrauchsfälle in den Erziehungsheimen der ehemaligen DDR, deren Geschichte erst nach und nach offengelegt wird, aber auch Vergewaltigungen durch Wehrmacht, SS und die Alliierten während und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Viele Betroffene werden nicht ernstgenommen

Viele Frauen wagten es erst jetzt, 65 Jahre nach Kriegsende, über das Erlebte zu sprechen, und auch sie machten häufig die Erfahrung, nicht ernstgenommen zu werden mit ihren seelischen Wunden. „Oft ist das Argument zu hören, warum den Frauen denn erst jetzt eingefallen sei, traumatisiert zu sein.“

Medica Mondiale bietet in Ländern wie Afghanistan, Irak, Ruanda oder Bosnien-Herzegowina Frauen neben der medizinischen Beratung auch rechtliche und psychosoziale Unterstützung an. Dafür kooperiert die Organisation mit Partnern vor Ort, etwa Medica Zenica oder SEVOTA.

„Für uns ist es wichtig, langfristig und mindestens für eine Generation lang vor Ort zu sein und Hilfe zu bieten“, sagte Hauser. Denn der Bedarf an Unterstützung ist auch viele Jahre nach dem Ende eines Krieges noch da. Ein Beispiel sind die „Kinder des Feindes“ in Ruanda.

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