Ärzte in Kassen-Fesseln

Der böse Bube kriegt einen Namen

Vertragsärzte im Kassen-Gefängnis? Der Sicherstellungsauftrag als Fessel? Wie beengt fühlen sich Ärzte - und wer beschränkt ihre Freiheit? Der Staat ist es jedenfalls nicht mehr. In den Vordergrund der Kritik rückt allerdings der GKV-Spitzenverband.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Ärzteangst: Die Fesseln der Krankenkassen?

Ärzteangst: Die Fesseln der Krankenkassen?

© TOUGARD / fotolia.com

Es waren martialische Worte des Klassenkampfes, die der KBV-Vorsitzende Dr. Andreas Köhler bei der jüngsten KBV-Vertreterversammlung Ende September bemühte, um die festgefahrenen Verhandlungen in der Honorarrunde für 2013 zu charakterisieren.

Eine "Kassendiktatur" habe die Vertragsärzte mit dem Instrument des Sicherstellungsauftrages wie einen "Kettenhund" an die Leine gelegt.

Längst sei der Freiberufler Arzt versklavt, dessen Freiheit sich nach der Länge der Kette bemesse, an die er gebunden sei.

17MLP-Gesundheitsreport 2011

Köhler: "Es ist keine Freiheit, wenn ich im Gefängnishof spazieren gehen kann! Denn, so bitter das ist, nichts anderes ist aus dem Sicherstellungsauftrag geworden: Die Freiheit im Gefängnishof! Er ist von einer Schutzmauer für Ärzte und Patienten in diesem Land zu einer Gefängnismauer für die Ärzte geworden."

Klassenkampf wie weiland 1900, als der Hartmannbund als Vorläufer des KV-Systems - allerdings ohne Sicherstellungsauftrag - mit nahezu flächendeckenden Streiks der niedergelassenen Ärzte erstmals seit Gründung der gesetzlichen Krankenversicherung 1883 adäquate Honorarvereinbarungen durchsetzen konnte?

Das Kampfmittel des Streiks steht den Vertragsärzten seit nunmehr 80 Jahren, seit Gründung der KV-Monopole, nicht mehr zur Verfügung. Es sei denn, die Vertragsärzte wären bereit, massenhaft aus dem KV-System auszusteigen.

Gibt es eine vorrevolutionäre Situation, wie die klassenkämpferische Rede Köhlers Ende September vermuten lassen könnte? Versuche zum Systemausstieg hat es bereits gegeben - der bayerische Hausärzte-Tribun Dr. Wolfgang Hoppenthaller ist daran mehrfach gescheitert.

Tatsächlich ist den weitaus meisten Ärzten keineswegs nach Revolution zumute. Denn ungewiss ist, wie groß die Solidarität unter den Kollegen ist, erst gemeinsam auf die Barrikaden und dann den Schritt in eine völlig unsichere Freiheit ohne Rückhalt des KV-Systems zu gehen.

Das KV-Gefängnis, so bürokratisch-miefig und einengend es auch sein mag, bietet den weitaus meisten Ärzten Sicherheit und relative Prosperität - und zwar, mit der einmal erteilten Zulassung, lebenslang.

Auf diesen Umstand hat bereits vor Jahren der ehemalige niedersächsische KV-Vorsitzende und spätere Hausärzteverbands-Chef Professor Klaus Dieter Kossow hingewiesen - als Erklärung für das aussichtslose Unterfangen, aus den Gefängnismauern des KV-Systems auszubrechen.

Doch jenseits der klassenkämpferisch klingenden Parolen im jährlich wiederkehrenden Honorarstreit ist es eine ernsthaft zu diskutierende Frage, ob und inwieweit die ärztliche Profession selbstbestimmt und eigenverantwortlich arbeiten kann und wie groß der Einfluss von Fremdbestimmung ist - tatsächlich und gefühlt.

Das ist deshalb nicht einfach zu beantworten, weil Ärzte als Heilberufler und als Leistungsträger in einem Sozialversicherungssystem einer ganzen Kaskade von Regulierungsmechanismus unterliegen, von denen ein Gutteil aus der eigenen Selbstverwaltung, also aus dem Anliegen der Profession heraus induziert ist.

Generell lässt sich für die letzten fünf Jahre aus den Umfragen der Ärzte Zeitung 2012 und 2007 feststellen, dass der "Gefängnishof" für die Vertragsärzte etwas großzügiger geschnitten worden ist.

So hat sich der Anteil der Ärzte, die sich durch sogenannte vorgelagerte Instanzen vom Gesetzgeber bis zur eigenen Selbstverwaltung als "sehr stark" in ihren Freiheitsgraden eingeschränkt fühlen, von 60 auf 44 Prozent vermindert.

Aber korrespondierend dazu ist der Anteil derer, die sich immer noch "stark" beeinträchtigt sehen, um 13 Punkte auf fast 48 Prozent gestiegen. In der Summe bleibt das fast gleich, erlebt werden allenfalls graduelle Liberalisierungen.

Wie empfinden Sie die Einschränkungen?

Von welcher Instanz fühlen Sie sich am stärksten eingeengt?

Wie wird es in der Zukunft sein?

Skeptischer Blick in die Zukunft

Viel ausgeprägter und interpretationsfähiger sind dagegen die Aussagen über die verschiedenen Einflusssphären, die auf das Gesundheitssystem und damit auf die ärztliche Berufsausübung einwirken.

Stichwort "Staatsmedizin". Die lange Serie, über fast 30 Jahre wirkende interventionistische und auf Kostendämpfung gerichtete Gesundheitspolitik aller Koalitionsspielarten, hat vor allem in den letzten Jahren unter der Ägide von Professor Jörg Dietrich Hoppe als Präsident der Bundesärztekammer zum Begriff der Staatsmedizin geführt.

Erst kommt das Budget, dann werden sukzessive immer mehr medizinische Prozeduren so festgesetzt, dass sie mit den ökonomischen Bedingungen in Einklang zu bringen sind. Auf der Strecke bliebe die professionelle Selbstbestimmung des Arztes, der auf diese Weise Beauftragter eines staatlichen Gesundheitssystems werden würde.

So richtig geglaubt haben die Ärzte das eigentlich nie. Auch 2007, als Ulla Schmidt (SPD), die nie als Liebling der Ärzte galt, noch Bundesgesundheitsministerin war, wurde der Gesetzgeber nur von 33 Prozent der Leser als Hauptursache bei der Einschränkung ärztlicher Freiheiten identifiziert. Die Ministerialbürokratie wurde gar nur von zehn Prozent genannt.

Aber nun die Überraschung 2012: Die Politik spielt eine deutlich geringere Rolle. Nur noch 21 Prozent der Leser nennen den Gesetzgeber als Hauptverantwortlichen für die Freiheitsbeschränkungen, wie sie Ärzte bei ihrer Arbeit erleben. Die Ministerialbürokratie wird mit acht Prozent noch weniger genannt.

Liegt es am Regierungswechsel 2009, an einem liberalen Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr, der zumindest unter Ärzten im Bundestagswahlkampf vor drei Jahren als Favorit für dieses Ministeramt galt?

Tatsache ist, dass zumindest die Tonalität des liberal geführten Bundesgesundheitsministeriums in den Ohren von Ärzten angenehmer klingt.

Insgesamt wird daraus jedoch keine Ode an die Freude. Für Kakophonien sorgen die anderen - und das ist vor allem der GKV-Spitzenverband. Der ist ein Konstrukt aus dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007, mit dem die ehemaligen Spitzenverbände der Krankenkassen zu einem Monopol zusammengefasst worden sind.

Die Unterschiede und Eigenständigkeiten der verschiedenen Kassenarten, gewisse unterschiedliche Attitüden und Verhaltensweisen auch gegenüber der Ärzteschaft, so gering sie gewesen sein mögen, wurden damit eingeebnet und einem gesetzlichen Monopol mit Zwangsmitgliedschaft der Einzelkassen einem Minimalkonsens unterworfen.

So handelt der GKV-Spitzenverband nach der Maxime, dass jene Politik gut ist, die das Risiko mindert, dass einzelne Kassen einen Zusatzbeitrag erheben müssen.

Wettbewerb durch Qualität, Leistungs- und Preisdifferenzierung sind naturgemäß dem Spitzenverband fremd. Sein Ansatz ist minimalistisch bis nihilistisch. Und das ist inzwischen bei den Ärzten angekommen.

38 Prozent, fast viermal soviel wie vor fünf Jahren, machen den GKV-Spitzenverband als Hauptschuldigen für Freiheitsbeschränkungen für die Ärzte aus. Der Trend ist ein politisches Alarmsignal. Im Raum steht der Verdacht monopolistischen Machtmissbrauchs.

Mitgehangen, mitgefangen: Als Vertragspartner der Kassenverbände ist das KV-System als Mitverursacher administrativer Gängelung stärker in den Fokus geraten.

Immerhin 22 Prozent der Leser, doppelt so viele wie vor fünf Jahren, sehen in ihren selbst gewählten Vertretern die Verantwortlichen für die Fesselung der Vertragsärzte. Die Professionalisierung der KV hat kein größeres Vertrauen geschaffen.

Erstaunlich niedrig bleibt dagegen die Beachtung des Gemeinsamen Bundesausschusses, obgleich dieses Gremium aufgrund seiner Zuständigkeiten, die mit nahezu jedem neuen Gesetz gewachsen sind, inzwischen eine einzigartige Machtfülle auf sich vereint, die neuerdings sogar in die PKV hineinwirkt.

Der lange Legitimationsweg und die Anonymität des Gremiums scheinen die Funktionäre des Bundesausschusses - in Wirklichkeit sind es die Repräsentanten des GKV-Spitzenverbandes und der KBV - einstweilen noch vor kritischer Beobachtung zu schützen.

30 Zeitungszeilen kompakt

Bestenfalls graduell haben sich die Freiheitsgrade ärztlicher Handlungsspielräume in den vergangenen fünf Jahren erhöht. Gesunken ist nur der Anteil jener Ärzte, die sich „sehr stark“ vom Gesetzgeber, Ministerialbürokratie, Krankenkassen und eigener Selbstverwaltung eingeengt sieht.

Gleichwohl gibt es wichtige Veränderungen: Nicht mehr die Politik – Gesetzgeber und Ministerialbürokratie – sind die Hauptverantwortlichen dafür, dass die Selbstbestimmung der ärztlichen Profession eingeschränkt ist. Besonders kritisch wird dabei die Rolle des GKV-Spitzenverbandes gesehen, den es in der gegenwärtigen Organisationsform als gesetzliches Kassenmonopol erst seit 2008 gibt. Damit korrespondiert auch der negative Einfluss des KV-Systems.

Eine untergeordnete Rolle spielt dagegen der Gemeinsame Bundesausschuss trotz seiner ständig steigenden Aufgaben und Einflussmöglichkeiten.

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