Lahnstein wird zum Waterloo der Ärzte

Bedeutende Sozialgesetze sind immer ein Ergebnis großer Koalitionen. Das Gesundheitsstruktur-Gesetz leitet die Ära der gesetzlichen Budgetierung ein, es markiert aber auch den Start in den Wettbewerb der Krankenkassen.

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Das Trio infernale von Lahnstein: Horst Seehofer (CSU), Rudolf Dreßler (SPD) und Dieter Thomae (FDP).

Lahnstein, Anfang Oktober 1992. Nach viertägigen Verhandlungen hinter absolut verschlossenen Türen eines Hotels in Lahnstein haben Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU), der Chef-Sozialpolitiker der SPD, Rudolf Dreßler, und der FDP-Gesundheitspolitiker Dieter Thomae das Kostendämpfungs- und Strukturreform-Paket wasserdicht geschnürt.

Als gemeinsamer Gesetzentwurf der Bundestagsfraktionen wird es in ein beschleunigtes parlamentarisches Beratungsverfahren eingebracht, am 9. Dezember vom Bundestag und am 19. Dezember vom Bundesrat mit den Stimmen der Koalition und der Opposition verabschiedet.

"Bittere Früchte erfolgreicher Honorarpolitik"

Für die Ärzte ist Lahnstein ein Waterloo. "Wir ernten die bitteren Früchte einer erfolgreichen Honorarpolitik", stellt KBV-Vorstandsmitglied Eckhard Weisner resignierend fest.

Das sind die neuen Fakten:

Für die Honorare drückt der Gesetzgeber die Reset-Taste. Von 1993 bis 1995 gilt ein strikter Budgetdeckel. Alle Honorarverträge von 1991 und 1992 werden kassiert.

Das 93er Honorarbudget basiert auf der gezahlten Gesamtvergütung von 1991, erhöht um das Wachstum der Grundlohnsumme.

Dieses für die Krankenkassen außerordentlich komfortable Modell für die Weiterentwicklung der Gesamtvergütung wird von langer Dauer sein und erst mit dem Wettbewerbs-Stärkungsgesetz von 2007 - also 15 Jahre nach Lahnstein! - durch eine Morbiditätsorientierung abgelöst werden.

Für Arzneibudgets haften Ärzte kollektiv

Die Arzneimittelausgaben werden ebenfalls budgetiert. Ausgangsjahr ist auch hier 1991, modifiziert um einige Sonderfaktoren wie steigende Zuzahlungen, neue Festbeträge und gesetzliche Preissenkungen, die das Budget senken, aber auch einige budgeterhöhende Faktoren.

Für die Arzneimittelhersteller gilt ab dem 1. Januar 1993 ein Preismoratorium auf Basis der Preise vom 1. April 1992. Für die Einhaltung des Budgets müssen die Vertragsärzte kollektiv haften.

Um den Einstieg in diese Regelung zu entschärfen, wird die maximale Regress-Summe auf 560 Millionen DM beschränkt: davon sollten im Fall von Budgetüberschreitungen für die erste Hälfte die Pharma-Industrie mit 280 Millionen DM und erst für die zweite Hälfte die Ärzte haften.

Das ist etwa ein Prozent der ärztlichen Gesamtvergütung. Dennoch löst gerade diese Regelung Panik bei KBV und KVen aus: Sie suggerieren, das Budget werde um bis zu vier Milliarden DM überschritten.

Die Angstpropaganda zeigt rasch Wirkung - die Ärzte sparen weit mehr als sie müssen. Als Gast des Ärztetages im Mai 1993 wird Seehofer sich herzlich bedanken.

Erst 2001 schafft Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) die Arzneibudgets ab. Die SPD hat die Arzneimittel-Positivliste durchgesetzt und damit den Ärzten einen Wunsch erfüllt.

Doch dieses Projekt lässt Seehofer 1995 zu Konfetti schreddern, die dem Pharmaverbands-Geschäftsführer Hans Rüdiger Vogel zum Geburtstagsgeschenk gemacht werden.

Eine neue Ära für die Kassen: Start in den Wettbewerb

Bedarfsplanung und Kassenarztzulassung werden völlig neu geregelt - zu Lasten alter und junger Ärzte. Nach dem 31. Januar 1993 gilt zunächst ein Zulassungsstopp, bis neue Bedarfsplanungs-Richtlinien in Kraft sind.

Das treibt Hals über Kopf mehr als 10.000 Ärzte in die Niederlassung. Ferner: Wer älter als 55 ist, bekommt keine Zulassung mehr. Und ab 1999 gilt eine Altersgrenze von 68 Jahren.

Strukturell neu ist, dass ab 1995 auch in der hausärztlichen Versorgung, die gesetzlich definiert wird, nur noch weitergebildete Allgemeinärzte, Internisten und Kinderärzte zugelassen werden.

Auch für die Krankenkassen und ihre Versicherten bricht eine neue Ära an: Ab 1996 können alle GKV-Versicherten zwischen AOK, Ersatzkassen sowie geöffneten BKKen und IKKen wählen.

Status-Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten werden aufgehoben. Ab 1994 gilt ein Risikostrukturausgleich, der den alten vollständigen Finanzausgleich in der Krankenversicherung der Rentner ablöst.

Es ist der Start in den Kassen-Wettbewerb. (HL)

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