"Die Praxis wird zur Gangsterwohnung"

Der Rechtsstaat schlägt Kapriolen: Als Bundestag und Bundesrat Anfang 1998 den Großen Lauschangriff beschließen, löst das eine Protestwelle auch bei den Ärzten aus. Das Patientengeheimnis ist in Gefahr.

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Aufruf zur Umfrage der "Ärzte Zeitung" in der Ausgabe vom 23. Januar 1998.

Bonn, 16. Januar 1998. Mit 452 zu 184 Stimmen, also mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit, ändert der Bundestag Artikel 13 des Grundgesetzes, der die Unverletzlichkeit der Wohnung und die Vertraulichkeit des darin gesprochenen Wortes garantiert.

Der Hintergrund dieser als "Großer Lauschangriff" bezeichneten Einschränkung von Grundrechten sollte der Kampf gegen die organisierte Kriminalität sein.

Betroffen von der Verfassungsänderung und Folgekorrekturen an der Strafprozessordnung sind Berufe, die in besonderer Weise dem Schutz der Intimsphäre und der Persönlichkeit ihrer Klienten verpflichtet sind: Rechtsanwälte, Ärzte, Journalisten, Priester. Parlamentarier dürfen jedoch nicht überwacht werden.

Die deutsche Ärzteschaft ist auf das höchste alarmiert: Unter der Überschrift "Die Praxis wird zur Gangsterwohnung" schreibt der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Karsten Vilmar, in einem Gastkommentar für die "Ärzte Zeitung".

"Kein Patient kann in Zukunft mehr sicher sein, dass die Vertraulichkeit seiner Angaben gewahrt bleibt. Auch der Arzt kann nie sicher sein, ob er verwanzt ist, weil er möglicherweise von einem Tatverdächtigen aufgesucht wird. Jeder Patient muss also damit rechnen, dass sein Gespräch mit dem Arzt belauscht wird. Das Sprechzimmer des Arztes wird so zur potenziellen Gangsterwohnung stilisiert."

Die "Ärzte Zeitung" ist dezidiert der Meinung, dass sie sich nach diesem Eingriff in Grundrechte ihrer Leser und deren Patienten in aller Klarheit positionieren muss: Eine Woche nach der Bundestagsentscheidung fällt der Startschuss für die Mobilisierung der Leser: "Lauschangriff - ein Anschlag auf Ärzte und Patienten?"

90 Prozent der Ärzte sind empört

In einer Umfrage sollen Ärzte Politikern ihre Meinung sagen. Denn wichtig ist: Noch ist die Grundgesetzänderung nicht beschlossen, die Zustimmung des Bundesrates ist für den 6. Februar 1998 geplant.

Bereits gut eine Woche nach dem Start der Umfrage liegen rund 5000 Rückantworten vor. Das Votum ist ganz eindeutig: Jeweils über 90 Prozent der Ärzte sagen, sie seien empört, dass der Polizei erlaubt sein soll, Gespräche zwischen Arzt und Patient abzuhören; dass damit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachtet wird und dass das Arztgeheimnis in unvertretbarer Weise ausgehöhlt wird.

Doch am 6. Februar stimmt auch der Bundesrat der Verfassungsänderung zu. Allerdings wird für Teile der Begleitgesetzgebung der Vermittlungsausschuss angerufen.

Das führt dazu, dass der Bundestag Anfang März 1998 jene Berufe vor dem Großen Lauschangriff schützt, die ein Zeugnisverweigerungsrecht haben: und das sind auch die Ärzte.

Gleichwohl kommt das Bundesverfassungsgericht 2004 zu dem Ergebnis, dass etliche Regelungen gegen das Grundgesetz verstoßen. Zulässig ist die Überwachung nur bei Verdacht auf schwere Straftaten, und es dürfen nur Gespräche abgehört werden, wenn alle Gesprächsbeteiligten verdächtig sind.

Daraus folgte noch im Lauf des Jahres 2004 eine Korrektur des Großen Lauschangriffs. Mit dieser Novellierung wird die Intimsphäre von Ärzten nicht mehr geschützt. Der absolute Schutz gilt seitdem nur noch für Parlamentarier, Priester und Rechtsanwälte in ihrer Eigenschaft als Strafverteidiger. (HL)

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