Fünf Jahre nach Fukushima

Strahlung nicht mehr das Kernproblem

Die Natur- und Atomkatastrophe von Fukushima jährt sich zum fünften Mal. Das Hauptproblem vor Ort ist nicht mehr die Strahlung - vielmehr bahnen sich jetzt Zivilisationskrankheiten ihren Weg. Eine Visite in Nordostjapan.

Von Sonja Blaschke Veröffentlicht:

FUKUSHIMA. Seit der Dreifachkatastrophe von Nordostjapan, als am 11. März 2011 ein Megabeben der Stärke 9,0 mit anschließendem Tsunami weite Teile der Region dem Erdboden gleichmachte und zur Havarie des Atomkraftwerkes (AKW) Fukushima Daiichi führte, genießt weltweit vor allem die Strahlenbelastung in der Region große - auch mediale - Aufmerksamkeit.

Doch: Nicht so sehr die radioaktive Strahlung wirke sich auf die Gesundheit der Menschen in der Region Fukushima aus, sondern die Veränderung des sozialen Umfeldes nach der Havarie im AKW.

Das stellten Dr. Sae Ochi und Dr. Masaharu Tsubokura in den nahegelegenen Städten Soma und Minamisoma fest. Die Menschen werden körperlich schwächer, Diabetes und Adipositas nehmen zu, ebenso psychische Erkrankungen und Suizide, wie sie im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" erläutern.

Abwägung der Gefahrensituation

Wenn sie in Fukushima Vorträge über die radioaktive Strahlung halte, werde sie oft gefragt, ob es in Ordnung sei, in den Bergen nach wildem Gemüse zum Verzehr zu suchen, sagt Ochi, die im Soma Central Hospital die Abteilung der Inneren Medizin leitet.

Die 41-Jährige praktiziert seit 2013 in der Stadt Soma, 50 Kilometer nördlich vom havarierten Meiler. "Wenn die Person über 70 Jahre alt ist, sage ich: ‚Gehen Sie, so oft Sie wollen‘".

Aus Erfahrung in ihrer täglichen Praxis im Soma Central Hospital und anhand jährlicher Studien vor Ort geht sie davon aus, dass körperliche Inaktivität und der Verzicht auf vitamin- und mineralstoffreiche Lebensmittel gerade bei älteren Menschen weitreichendere Folgen haben kann als die Exposition relativ geringer Mengen an radioaktiver Strahlung über die Nahrung.

Sie und ihre Kollegen erhoben Daten unter über 65-Jährigen, die in temporären Wohnungen im Container-Stil - kasetsu genannt - leben. Diese ergaben einen Anstieg von Diabetes, Bluthochdruck, Fettleibigkeit, Suchterkrankungen sowie mentalen Problemen, vor allem unter Männern.

Ochi steht in engem Kontakt mit anderen Ärzten in der Region, die seit der Havarie in Fukushima Daiichi Screenings durchführen, um die Bewohner auf innere Strahlenexposition zu untersuchen. Einer von ihnen, Tsubokura, nahm wenige Wochen danach seine Arbeit im Minamisoma Municipal General Hospital auf, 30 Kilometer nördlich vom AKW.

Seit Juli 2011 führten die Ärzte dort mit einem Ganzkörperscanner Messungen durch, im ersten Jahr 10.000. Das entspreche einem Drittel aller in Japan damals durchgeführten Messungen, sagt Tsubokura.

Der 34-Jährige bedauert diese relativ geringe Zahl. Das Ergebnis in Minamisoma und Soma: Bei 99 Prozent der Untersuchten habe man nichts feststellen können. Die Nachweisgrenze der Geräte liegt bei 250 Becquerel pro Körper-Scan.

Aber das Ergebnis zeigt nur einen Ausschnitt: Zwar nähmen über 98 Prozent der Schüler daran teil und seit drei Jahren habe man kein Cäsium mehr entdeckt, so Tsubokura. Allerdings ließen sich nur acht bis zehn Prozent der Erwachsenen untersuchen. "Sie wollen nicht über die Strahlung reden", sagt der Hämatologe.

Es fehlt an Wissen

Zugleich mangele es ihnen an Wissen darüber. Er könne die Leute weder auffordern, zum Screening zu gehen, weil es sonst gefährlich sei, noch ihnen sagen, dass es in Ordnung sei, darauf zu verzichten, "eine schwierige Balance".

Auch die Strahlung in der Luft wurde gemessen: "In Minamisoma und Soma entsprach diese im Herbst 2011 in etwa der von Japan in den sechziger Jahren nach den weltweiten Atombombentests", sagt Tsubokura.

Pro Jahr liege die durchschnittliche Dosis bei einem Millisievert, vergleichbar mit Deutschland oder niedriger; Anteil daran habe die niedrige natürliche Strahlung in Fukushima.

Auch heute noch würde eine Mehrheit der Bevölkerung keine Lebensmittel aus der Region kaufen und nur Mineralwasser trinken und zum Kochen verwenden, berichtet Tsubokura. Aus seiner Sicht unnötig: "Wir haben die Werte von Leuten verglichen, die Wasser aus dem Hahn tranken und solchen, die das nicht taten, und haben keinen Unterschied festgestellt."

Tsubokura und seine Kollegin Ochi in der Nachbarstadt Soma sehen gegenwärtig das größere Problem nicht in der direkten Auswirkung der Strahlung, sondern in den Folgen der Katastrophe für die Bevölkerung durch die Veränderung des sozialen Umfeldes.

Ein Team von Ärzten, zu dem Ochi gehört, führt seit 2012 jährlich Gesundheits-Checks bei über 65-Jährigen durch, die in containerartigen Übergangswohnungen leben.

Es zeigte sich zum Beispiel, dass die Menschen dort fünfmal weniger Kraft in den Beinen aufwiesen als Vergleichsgruppen. Der Grund ist naheliegend: Sie haben oft keine Arbeit mehr, bewegen sich zu wenig, leben sehr beengt - typische Wohnzimmer haben oft weniger als fünf Quadratmeter.

Häufig lägen die Siedlungen am Stadtrand, was die Abhängigkeit vom Auto erhöhe. "Wer jetzt noch immer dort wohnt, gehört zu den Gesunden", sagt Ochi. "Alle anderen sind inzwischen so krank geworden, dass sie zum Beispiel wegen Demenz bereits in ein Pflegeheim mussten".

Keine systematischen Untersuchungen

Auf engstem Raum leben die Opfer der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 im Nordosten Japans in den kasetsu genannten temporären Notunterkünften.

Auf engstem Raum leben die Opfer der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 im Nordosten Japans in den kasetsu genannten temporären Notunterkünften.

© Sonja Blaschke

Bluttests ergaben nach Angaben von Tsubokura 1,4 Mal mehr Diabetesfälle; Diabetes erhöhe das Risiko, an Krebs zu erkranken. Gerade Männer seien davon betroffen, einige seien adipös geworden.

Das Risiko für Insulte hat sich laut Tsubokura um das 2,4-Fache erhöht, "nicht aufgrund der Strahlung, sondern aufgrund des Atomunglücks", stellt er klar.

Seine Kollegin Ochi sagt, dass es bisher kein integriertes System gebe, das sowohl die jährlichen Standard-Untersuchungen der körperlichen Gesundheit als auch die Screenings auf Strahlung beinhalte. Außerdem werde keine Krebs-Datenbank geführt.

Die Ärzte beobachten anhaltende psychische Auswirkungen der Katastrophe. Allerdings würde dies nicht systematisch untersucht.

An erhöhten Leberenzymwerten lasen sie ab, dass die Fälle von Alkoholismus ansteigen - ein Problem, das in der gesamten Katastrophenregion weit verbreitet sein soll, vor allem unter Männern. Diese seien für die Veränderung des sozialen Umfelds anfälliger, so Ochi.

"Wenn wir Übergangswohnungen besuchen, sind dort vor allem Frauen bei den Treffen. Wenn wir fragen, wo der Ehemann ist, dann sagen sie: ‚Der sitzt zuhause vor dem Fernseher." Das sei wohl ein Stück weit japanische Kultur, verdeutlicht Ochi, der Mann als "arbeitender Soldat". Wenn er die Arbeit verliere, dann verliere er zugleich seine Gemeinschaft.

Die Region Soma und Minamasoma war nicht nur von den Folgen des AKW-Desasters, sondern auch vom Tsunami betroffen. Die Wellen reichten bis kurz vor das Krankenhaus, in dem Ochi arbeitet - fünf Kilometer von der Küste entfernt. 1500 Menschen starben in der Region.

Die betroffenen Präfekturen hatten sofort reagiert und verfügt, dass künftig unter anderem Krankenhäuser und Kindergärten weiter von der Küste weg auf höher gelegene Plateaus gebaut werden sollen, um die Gebäude vor Tsunami zu schützen.

Über das eigene Leid werde kaum gesprochen, erläutert Ochi. "Wie kann ich aufhören, wenn ich nur eine Person, eine Kollegin aber gleich drei Familienmitglieder verloren hat", sagte ihr eine Krankenschwester, deren Mutter ums Leben kam. Viele Betroffene würden ihr eigenes Leid mit dem anderer vergleichen und ihre Gefühle für sich behalten.

Stolz auf stoisches Durchhalten

Die Soziologin und Vizepräsidentin der Seisa University in Tokio, Dr. Miwako Hosoda, reist regelmäßig nach Soma und Minamisoma.

Wie sie im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" äußert, sind die Menschen dort stolz auf ihr stoisches Durchhaltevermögen. Zwar seien Einzelne in der Lage, über ihre Nöte zu sprechen, doch im Allgemeinen erlaube das soziale Umfeld dies nicht.

Während die Suizidraten in Gesamtjapan rückläufig sind, hat die Anzahl von Selbsttötungen in Fukushima in Zusammenhang mit der Katastrophe zugenommen. Wie die Zeitung Asahi mit Verweis auf Kabinettsangaben berichtet, seien 154 Suizide in den Präfekturen Fukushima, Iwate und Miyagi direkt auf die Dreifachkatastrophe zurückzuführen.

Viele Menschen mit suizidalen Gedanken suchten vorher Hilfe, sagt Hosoda. Allerdings fehle es an guter Nachsorge, mahnt sie.

Diese müsse nicht nur die Menschen vor Ort einschließen, sondern auch Rückkehrer in die Region, die teils von der Gemeinschaft wegen ihrer Flucht nach der Havarie aus Nordostjapan in andere Landesteile ausgegrenzt werden, sowie Menschen, die weiter ihrer Heimat fernbleiben. Wer etwa nach Tokio gezogen sei, traue sich dort oft nicht zuzugeben, aus Fukushima zu stammen - aus Angst vor Diskriminierung.

Defizite bei medizinischer Versorgung

Auch auf die medizinische Versorgung in Soma und Minamisoma wirkt sich die Atomkatastrophe weiter aus. Zwar konnten sieben von zwölf Krankenhäusern ihre Funktion aufrechterhalten, aber viele Arztpraxen schlossen, bilanziert Dr. Sae Ochi.

Die Versorgung mit Ärzten liege bei über 100 Prozent, aber es fehle an Spezialisten: Es gebe nur eine einzige Geburtsklinik für Soma und Minamisoma, und das, obwohl die Geburtenrate in Fukushima steige. Es gebe keinen Halsnasenohren-, Augen- und Hautarzt in Vollzeit.

Einen Engpass gebe es bei den medizinischen Assistenzberufen mit Krankenschwestern und Pflegern sowie medizinischen Fachangestellten, deren Zahl abgenommen habe, verdeutlicht Ochi.

Da die Patientenzahl unverändert sei, habe sich die Belastung für das Personal erhöht. "80 bis 90 Prozent des Personals sind Frauen. Viele verließen nach der Katastrophe die Region, aus Sorge um die Gesundheit, aber auch wegen der Erziehung der Kinder", erklärt Ochi.

Was sie in ihrer täglichen Praxis häufig sehe, sei ein Problem, das nicht nur die Region Fukushima, sondern ganz Japan zunehmend betreffe, und zwar die Folgen des Demografiewandels: "Ich sehe alte Leute, die sehr alte Leute pflegen", so Ochi.

Es herrsche ein eklatanter Mangel an Plätzen in Pflegeheimen. Ochi regt an, das Bewusstsein für körperliche Betätigung und Gesundheits-Checks vor allem bei Älteren zu stärken.

Die Screenings auf radioaktive Strahlung müsse man auf jeden Fall fortsetzen, fordert ihr Kollege Tsubokura. Er und Ochi hoffen, durch Seminare zur Radioaktivität die Menschen in die Lage zu versetzen, aufgeklärte Entscheidungen zu treffen. Denn die Angst vor der Strahlung führe zum Teil zu überraschenden Entscheidungen, sagt Ochi.

Zum Beispiel sei eine Mutter so besorgt gewesen, dass die örtliche Grundschule Lebensmittel aus der Region für die Zubereitung des Mittagessens verwendete, dass sie ihrem Kind stattdessen Hamburger einer amerikanischen Fastfood-Kette mitgegeben habe.

Lesen Sie dazu auch: Fukushima-Katastrophe: Hat Japan die Zerreißprobe bestanden? Wiederaufbau in Japan: Neustart mit Tücken

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