Fukushima-Katastrophe

Hat Japan die Zerreißprobe bestanden?

Nach der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 in Japan spekulierten Experten über den Atomausstieg des Landes. Wutbürger galten als Gefahr für die Zentralregierung. Beides scheint ad acta gelegt. Der Premier verordnet Nippon die nukleare Zukunft.

Matthias WallenfelsVon Matthias Wallenfels Veröffentlicht:
Immer mehr Tanks für verstrahltes Wasser werden am AKW Fukushima Daiichi benötigt.

Immer mehr Tanks für verstrahltes Wasser werden am AKW Fukushima Daiichi benötigt.

© Motoya Taguchi / dpa

TOKIO. Die offiziellen Zahlen der japanischen Wiederaufbau-Agentur, die der Zentralregierung in Tokio unterstellt ist, sind beeindruckend.

Umgerechnet rund 250 Milliarden US-Dollar sind staatlicherseits bis Ende vergangenen Jahres an Mitteln freigegeben worden, um den Wiederaufbau des Nordostens voranzutreiben. Bis Ende 2020 sind weitere 65 Milliarden US-Dollar eingeplant.

Am 11. März 2011 hatte ein Megabeben der Stärke 9,0 mit anschließendem Tsunami weite Teile der Präfekturen Fukushima, Iwate und Miyagi verwüstet, mehr als 18.000 Menschenleben gefordert und zur Havarie des Atomkraftwerkes Fukushima Daiichi geführt.

Die japanische Atomaufsichtsbehörde in Tokio hob die Einschätzung des Atomunfalls rasch von Stufe 5 auf die höchste Stufe 7 an, die bisher nur das Unglück in Tschernobyl erreicht hatte. Der Kampf gegen die Strahlen und Seuchen begann.

Zweigleisiges Krisenmanagement

Schnell kristallisierte sich heraus, dass die Katastrophe ein zweigleisiges Krisenmanagement erfordert - auch langfristig. So ging es zum einen um die Versorgung der Opfer und den Wiederaufbau der zerstörten Regionen. Zum anderen mussten ein zwischenzeitlich drohender Kontrollverlust und damit weitere Kernschmelzen im Meiler verhindert werden.

Heute kann sich Japan auf die Fahne schreiben, den infrastrukturellen Wiederaufbau - Verkehrswege, Bahnlinien, Schulen und Krankenhäuser etc. - tatsächlich rasch voranzutreiben.

Laut der Wiederaufbau-Agentur ist die Zahl der Katastrophenopfer, die in kasetsu genannten Notunterkünften untergebracht wurden, von 470.000 auf rund 174.000 zurückgegangen ist.

Was die Regierung - in alter politischer Tradition - nicht gerne thematisiert, ist zum Beispiel die Zunahme der Zivilisationskrankheiten bei den Bewohnern der beengten Notunterkünfte.

Zweifel an der Krisenmanagementkompetenz lassen auch die Zustände rund um den havarierten Meiler aufkommen. So hat es der Betreiber Tokyo Electric Power Company bis heute - auch mit staatlicher Unterstützung - nicht vermocht, einen sicheren Rückbauplan vorzulegen.

Tausende Hilfsarbeiter - die meisten von ihnen aus sozial ausgegrenzten Randgruppen rekrutiert - arbeiten als Liquidatoren teils unter zweifelhaften Arbeitsschutzbedingungen an der Säuberung der hoch radioaktiv belasteten Ruine.

Ungeschützte Säcke mit Dekontaminationsabfällen

 Weiter werden ständig neue Tanks benötigt, um auslaufendes kontaminiertes Wasser zu lagern. Tausende Säcke mit Dekontaminationsabfällen liegen ungeschützt in der Landschaft.

Unklarheiten über das Ausmaß der Strahlenexposition und die gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung sowie ein offensichtlicher Unwille der Regierung, diesen Themenkomplex zügig und zielgerichtet anzugehen, hatten zu - in Japan bis dato völlig unbekannten - Graswurzelbewegungen und Anti-Atom-Demonstrationen geführt.

Experten hatten mit einem Atomausstieg gerechnet, zumal der damalige demokratische Premier Yoshihiko Noda im September 2012 einen Exodus bis 2040 in Aussicht stellte.

Auch rechnete man damit, dass die sozialen Proteste die Volksvertreter unter Druck setzen und zu politischen Umwälzungen führen könnten. Beides stellte sich sehr schnell als Trugschluss heraus. Denn mit dem neuen liberaldemokratischen Amtsinhaber Shinzo Abe als Premierminister kam die konservative Karte wieder zum Zuge.

Schnell erfolgte die Absage an den Atomausstieg. Unter dem Stichwort Abenomics versucht der Premier seither, Japan vor einem drohenden wirtschaftlichen Abstieg zu bewahren - unter anderem mit einem günstigen Energiemix, der auf Nuklearstrom setzt, und dem Export japanischer Reaktortechnik an Schwellenländer. Zu sehr schmerzt Japans Politiker, dass China Nippon von Platz zwei der weltgrößten Volkswirtschaften verdrängt hat.

Screening-Diskussion gehört in die Wissenschaft

Die Bevölkerung pflegt wieder ein politisches Desinteresse - und meidet sicherheitshalber Lebensmittel aus Fukushima.

Die Japaner sind beruhigt, dass es die für alle Kinder unter 18 Jahren in der Präfektur angeordneten Krebs-Screenings gibt, die nach offizieller Lesart keine strahlenbedingte Zunahme der Fälle ergeben hat. Abe hat die Zerreißprobe gemeistert.

Das ist ein schweres Umfeld für Kritiker wie die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), die erst kürzlich in Berlin aus denselben Studienergebnissen auf jeden Fall eine Zunahme der Krebsfälle nach der Havarie herausgelesen haben.

Kategorisch lehnen sie die These eines Screening-Effekts ab. Um die Frage interessenunabhängig zu klären, gehört diese Hermeneutik in die Wissenschaft – evidenzbasiert!

Lesen Sie dazu auch: Fünf Jahre Fukushima: Strahlung nicht mehr das Kernproblem Wiederaufbau in Japan: Neustart mit Tücken

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