"Man kann im Internet viel Nähe vermeiden"

Jugendliche haben immer mehr virtuelle Freunde -doch die Einsamkeit und Mobbing-Gefahr wächst.

Von Annett Klimpel Veröffentlicht:
Lieber kommunizieren viele Jugendliche per SMS als im direkten Gespräch mit Freunden.

Lieber kommunizieren viele Jugendliche per SMS als im direkten Gespräch mit Freunden.

© Foto: dpa

Eltern schütteln oft mit dem Kopf: Ihr Sprössling wohnt nur 200 Meter von seinem besten Freund entfernt - trotzdem treffen sich die Beiden nicht zum Plausch, sondern kommunizieren via Internet miteinander. "Das ist ein Massenphänomen. Für Jugendliche ist es ganz selbstverständlich, ihre sozialen Kontakte übers Internet zu pflegen", sagt der Psychologe Florian Rehbein vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen.

Laut einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach vom Anfang des Jahres halten nur 36 Prozent der 14- bis 19-Jährigen das persönliche Gespräch für die angenehmste Form der Kommunikation. Viel lieber simsen und chatten Jugendliche oder schreiben sich E-Mails. "Das kommt den Gegebenheiten im Leben eines Jugendlichen entgegen", erklärt Rehbein. Wer etwa im Gespräch schnell unsicher werde, finde im Internet vielleicht mehr Schutz vor Spott und Kritik. "Man kann so zu viel Nähe vermeiden, nur so viel preisgeben, wie man möchte."

Professor Gerald Hüther, Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim/Heidelberg, sagt: "Da viele Jugendliche sich nicht wirklich für die andere Person in ihrer Ganzheit interessieren, sondern nur für den Austausch von Gedanken, reicht ihnen diese Art der Begegnung völlig aus." Lebendige Beziehungen seien komplizierter und störanfälliger, zwängen dazu, eigene Positionen infrage zu stellen und sich auf den anderen einzulassen. "Bei einem virtuellen Kontakt behält man die Kontrolle, wenn einem nicht passt, was der Andere mitteilt, kann man sich ausloggen."

Wird es für einen virtuell kommunizierenden Jugendlichen schwieriger, die Emotionen eines realen Gegenübers wahrzunehmen und zu deuten? "Das ist sicher der Fall", sagt Hüther. "Alle komplexeren Leistungen verkümmern ja, wenn man die dazu erforderlichen Verschaltungen im Gehirn nicht mehr benutzt. Das ist wie bei Musikern, die ihr Instrument nicht mehr spielen."

Virtuelles Mobbing wird zum Schulproblem

Ein Problem sei auch, dass das Internet eine Verstärkerfunktion habe - etwa beim Mobbing von Mitschülern, erläutert Rehbein. Einer Studie der Leuphana Universität Lüneburg zufolge ist fast jeder dritte Schüler an weiterführenden Schulen schon einmal von Klassenkameraden schikaniert worden.

Bei virtuellen Beziehungen kann man sich einfach ausloggen.

Wie im realen Miteinander müssten deshalb auch beim virtuellen Umgang Regeln eingehalten werden. Die allerdings müssten vermittelt werden. "Bei Computern im Kinderzimmer ist das ganz klar Aufgabe der Eltern", betont Rehbein. Viele Eltern beschränken ihre Aufmerksamkeit darauf, über die Dauer der Internet-Sitzungen ihrer Kinder zu mosern.

Untersuchungen zeigten, dass viele Jugendliche - und Erwachsene - tatsächlich unterschätzen, wie lange sie schon vorm Computer hocken. "Das Zeitgefühl geht verloren - aber das ist ja durchaus ein gewünschter Effekt", sagt Rehbein. So, wie man auch bei einem guten Film oder einem Buch schwärme, man habe darüber ganz die Zeit vergessen.

Das Buch hat 200 Seiten - im Internet ist immer was los

"Das Problem ist: Ein Buch hat 200 Seiten, ein Film ist nach zwei Stunden vorbei, aber im Internet ist immer was los." Die Angst, etwas zu verpassen, halte viele länger vorm PC als gewollt. Dann aber gleich von Abhängigkeit zu sprechen, sei falsch, betont Rehbein. "Exzessives Verhalten bedeutet nicht gleich Sucht."

Der Illusion, Gymnasiasten und Studierende nutzten das Internet vor allem für die Kenntniserweiterung, sollte man sich aber nicht hingeben: Die Suche und der Austausch von Wissen seien eher Randaspekte, sagt der Medienpsychologe Johannes Moskaliuk von der Universität Tübingen zu den Ergebnissen einer Untersuchung bei Studenten. Auch sie nutzten das Netz vor allem, um Kontakt zu Bekannten zu halten. "Da sind Schule und Hochschule in der Pflicht, das zu ändern." (dpa)

Schlagworte:
Mehr zum Thema

Vor dem World Health Assembly

WHO-Pandemieabkommen noch lange nicht konsensfähig

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Interview

STIKO-Chef Überla: RSV-Empfehlung kommt wohl bis Sommer

NHANES-Analyse

Bei Hörminderung: Hörgeräteträger leben länger

Hauptstadtdiabetologinnen

Ein Netzwerk für Diabetologinnen

Lesetipps
Neue Hoffnung für Patienten mit Glioblastom: In zwei Pilotstudien mit zwei unterschiedlichen CAR-T-Zelltherapien blieb die Erkrankung bei einigen Patienten über mehrere Monate hinweg stabil. (Symbolbild)

© Richman Photo / stock.adobe.com

Stabile Erkrankung über sechs Monate

Erste Erfolge mit CAR-T-Zelltherapien gegen Glioblastom

Die Empfehlungen zur Erstlinientherapie eines Pankreaskarzinoms wurden um den Wirkstoff NALIRIFOX erweitert.

© Jo Panuwat D / stock.adobe.com

Umstellung auf Living Guideline

S3-Leitlinie zu Pankreaskrebs aktualisiert