Live beim Training

Fußballspiel mit blinden Kickern

Kaum jemand kennt Blindenfußball als Sportart, dabei wird in Deutschland seit fast zehn Jahren in der Bundesliga gekickt. Wenn der Ball über das Spielfeld rasselt - ein Besuch beim Blindenfußballtraining.

Anne BäurleVon Anne Bäurle Veröffentlicht:
Die Blindenfußballmannschaft des TSV 1860 München beim Training. Im Inneren des Balles befinden sich Rasseln, damit die Spieler den Ball hören können.

Die Blindenfußballmannschaft des TSV 1860 München beim Training. Im Inneren des Balles befinden sich Rasseln, damit die Spieler den Ball hören können.

© Anne Bäurle

MÜNCHEN. Regentropfen fallen auf den meerblauen Rasen, es ist kalt. Kein guter Tag fürs Training. Ramon konzentriert sich auf das Rasseln des Fußballs. "Voy" ruft er - "Ich komme!" - und läuft los, immer dem Rasseln nach. Sehen kann Ramon den Fußball nicht.

Schon spürt er den Ball an seiner Schuhspitze und legt ihn sanft an den rechten Innenrist. Ramon läuft in Richtung Tor. Bloß nicht den Ball verlieren! Mit kleinen, weichen Schritten jongliert er den Fußball zwischen seinen Füßen.

Das Tor ist jetzt nur noch wenige Meter entfernt. Ramon verlässt sich auf sein Gehör, den Torwart kann er nur erahnen. Gekonnt platziert er den Ball auf dem rechten Fuß. Noch einmal konzentriert er sich, schießt.

Mit Dunkelbrille auf dem Spielfeld

Ramon, 26, ist seit seiner Geburt sehbehindert, bei rund zehn Prozent liegt sein Sehvermögen. Die extragroßen Buchstaben auf dem Display seines Smartphones kann er noch erkennen.

Klein und drahtig ist Ramon, mit breiten Schultern, muskulösen Waden und einem schwarz-stoppeligen Fünf-Tage-Bart. Man sieht ihm auf dem ersten Blick an, wie wichtig ihm Sport ist.

Seit acht Jahren spielt Ramon Blindenfußball, während seiner Ausbildung zum Physiotherapeuten hat er angefangen. Seit fast einem Jahr hat er nun eine eigene Mannschaft: Ramon ist Spielertrainer bei der Blindenfußballmannschaft des TSV 1860 München.

Die Bundesliga hat gerade begonnen - mit Ramon und seiner Mannschaft mittendrin. "Bloß nicht Letzter werden!" Ramon wird mit seiner Mannschaft in fünf Monaten durch ganz Deutschland reisen; Gelsenkirchen, Stuttgart, Hamburg, Berlin, Rostock. Neun Teams wollen den begehrten Pokal mit nach Hause nehmen.

Einfach sei es nicht gewesen, die Mannschaft zusammenzubekommen, sagt Ramon. "Immer weniger Blinde oder Sehbehinderte trauen sich zu, Fußball zu spielen." Auch Robert musste Ramon überzeugen. Sie kennen sich noch aus der Schulzeit, Fußball spielen die beiden erst seit vier Monaten zusammen.

Auch Robert hatte Angst vor Verletzungen, Angst, den Fußball mit voller Wucht ins Gesicht zu bekommen. Wie Ramon ist Robert sehbehindert, seine Sehfähigkeit liegt bei drei Prozent. Ein bisschen Licht und Schatten sieht Robert, schwierig wird es, wenn er Treppen hinabsteigen muss.

Auf dem Platz sieht man ihm seine Unsicherheit noch an. Ein bis zwei Monate braucht man, bis man so etwas wie Urvertrauen gefasst hat und blind loslaufen kann, immer dem rasselnden Ball nach, schätzt Ramon. "Am Anfang ist Blindenfußball einfach nur brutal anstrengend."

Im Gegensatz zu Robert trägt Ramon auf dem Spielfeld eine Dunkelbrille. Die soll die unterschiedlichen Sehbehinderungen der Spieler ausgleichen. Blind ist nicht gleich blind.

Im Training spielen sie heute Drei gegen Drei. Normalerweise stehen acht Feldspieler auf dem 20 mal 40 Meter großen, von Banden begrenzten Spielfeld, das damit deutlich kleiner ist als das mehr als doppelt so große Spielfeld in der Fußball-Bundesliga.

Das spanische "Voy" warnt die Anderen, wenn ein Spieler sich dem Ball nähert. Wird es zu spät oder gar nicht gerufen, gilt das als Foul - bei drei Fouls gibt es einen Achtmeter-Strafstoß.

Die Fan-Tröte bleibt zu Hause

"Wir haben massiv viele Geräuschquellen, aus denen wir das Wichtigste herausfiltern müssen: Ball, Mitspieler, Trainer. Dann die Geräuschkulisse der Zuschauer; Gespräche sind okay, aber eine Fan-Tröte geht eben nicht."

Die einzigen sehenden Spieler auf dem Feld sind die beiden Torhüter. Ihre Tore sind kleiner, gerade einmal so groß wie Handballtore, und sie dürfen ihren Torraum nicht verlassen.

Ramon hat seinen Schuss genau platziert. Der rasselnde Ball zischt über den blauen Kunstrasen. Keine Chance für den Torwart. Wuchtig prallt das kleine weiße Tier ins Netz.

Raghdan, der Torwart, fischt den Ball aus dem Tor. Er ist heute zum ersten Mal dabei, sein Lehrer hat ihn vorbeigeschickt. Raghdan ist 16, vor einem Jahr ist er mit seiner Familie nach Deutschland geflohen.

Er habe da einen fußballbegeisterten Schüler, hatte sein Lehrer am Telefon zu Ramon gesagt. Ob er den nicht mal vorbeischicken könne. Klar, sagte Ramon, doch überzeugt, dass Raghdan kommt, war er nicht wirklich.

Die Erfahrung, dass jemand zusagt und dann doch nicht auftaucht, hat er zu oft gemacht. "Viele glauben ja doch, dass wir auch eine geistige Behinderung haben. Dabei sind wir einfach nur blind." Raghdan schießt den Ball zurück aufs Spielfeld.

Normalerweise unterstützen zwei Guides das Spiel der blinden Fußballer vom Spielfeldrand. Einer steht an der Mittelfeldlinie, einer hinter dem Tor. Sie lotsen die Spieler zum Ball oder rufen ihnen die Entfernung zum Tor zu.

Doch Ramon ist es wichtig, auch ohne Guides zu trainieren, um das Zusammenspiel seiner Mannschaft zu verbessern. Denn das Wichtigste für ihn ist, dass Blindenfußball ästhetisch aussieht, wie er sagt. Deshalb gingen die Menschen ja schließlich ins Stadion. Für ihn ist Blindenfußball der große Botschafter für den Handicap-Sport. Und der sollte sichtbar sein - für Alle.

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