Im Berliner Kiez drohen Ärzte-freie Zonen

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Wir sind dann mal weg: Ärzte in Berlin wandern in besser gestellte Bezirke ab und gehen in Versorgungszentren.

Wir sind dann mal weg: Ärzte in Berlin wandern in besser gestellte Bezirke ab und gehen in Versorgungszentren.

© Foto: ddp

BERLIN. Ärztemangel in der Hauptstadt? Laut Statistik ist die gesamte Stadt in allen Fachgebieten bestens versorgt. Die Realität zeigt jedoch ein anderes Bild. Für viele Bewohner in den sozial schwachen Bezirken wird ein wohnortnaher Arzttermin zur Mangelware. Die KV sieht die Schuldigen bei den MVZ.

Von Angela Mißlbeck

Zum Quartalsbeginn bilden sich Schlangen vor der Hausarztpraxis von Jürgen David und seinen beiden Kollegen in Berlin-Neukölln. Etwa 3100 Kassenpatienten versorgt die Praxis. "Jeden Tag müssen wir etwa zehn Patienten abweisen. Kaum eine Praxis in Neukölln nimmt noch neue Patienten an", berichtet David. Besonders schlimm sei es mit Hausbesuchspatienten. "Die Angehörigen sitzen hier in der Praxis und heulen", sagt Hausarzt David.

Manche Patienten warten bis zu fünf Stunden

Bei einigen Facharztgruppen sieht es noch schlimmer aus. "Wir müssen täglich etwa 20 bis 30 Patienten abweisen. Wer einen Termin will, wartet meist zwei Monate", sagt der Pneumologe Dr. Rainer Gebhardt. Etwa 60 Patienten behandelt er an einem normalen Wochentag. Manche warten bis zu fünf Stunden in der Praxis.

Von "menschenunwürdigen Zuständen" spricht Gebhardt und sagt erschöpft: "Ich kann nicht mehr." Auch der 60-jährige Urologe Dr. Klaus Pilaski stöhnt. "Wir arbeiten absolut am Limit", sagt er. Rund 2300 Kassenpatienten pro Quartal sorgen bei ihm und seinen Kollegen für 70 Wochenstunden Arbeit. Die beiden Urologen suchen nach einem dritten Kollegen. Doch die Kosten für einen Kassenarztsitz könne ein niedergelassener Arzt in Neukölln gar nicht erwirtschaften. "Das können nur die Großen", sagt Pilaski.

"Die Großen", das sind Medizinische Versorgungszentren mit Investoren im Rücken. Aus Sicht der KV Berlin tragen sie die Hauptschuld an der Misere in Neukölln, indem sie Kassenarztsitze aufkaufen und in ihre Zentren verlegen. Dabei bleiben immer Patienten zurück - auch wenn stets das Gegenteil behauptet wird, damit die KV das Budget nicht kürzt. "Die MVZ haben die wohnortnahe Versorgung zerrüttet", sagt die Berliner KV-Chefin Dr. Angelika Prehn.

Doch die Ärzte aus Neukölln verschwinden nicht nur in MVZ, sie ziehen auch in die besser situierten Gebiete der Hauptstadt. Besonders beliebt ist Charlottenburg-Wilmersdorf.

In vier Jahren hat Neukölln insgesamt 53 Ärzte verloren

Seit Berlin im Sommer 2003 zu einem Bedarfsplanungsbezirk zusammengelegt wurde, hat Neukölln laut KV-Statistik 53 Ärzte verloren. Zum Jahresbeginn 2007 lag der Versorgungsgrad mit Anästhesisten in Neukölln bei 25 Prozent, Radiologen bei 50 Prozent und Hautärzte bei 54 Prozent.

Das Problem ist auch bei der Senatsgesundheitsverwaltung bekannt, und die Patientenbeauftragte von Berlin erhält Beschwerden über lange Wartezeiten oder weite Wege auch aus anderen sozial schwachen Bezirken. Für die stellvertretende Bezirksbürgermeisterin und Gesundheitsstadträtin von Neukölln Stefanie Vogelsang ist die Situation in ihrem Bezirk "deutlich problematisch". Sie sagt: "Wenn wir nicht gegensteuern, wird es dramatisch." Eine Bezirksinitiative will nun prüfen, ob Berlin wieder in mehrere Planungsbezirke untergliedert werden sollte.

Zurück zur Bezirksgliederung? Davon hält die KV nichts

Diese Lösung wird von der KV Berlin gar nicht begrüßt, und auch manche Ärzte sehen das skeptisch. "Wenn wir die Bezirksgliederung zurückholen, essen noch mehr Ärzte aus einem Topf und für den Einzelnen bleibt noch weniger", sagt Prehn. Berlin muss aus ihrer Sicht als Ganzes betrachtet werden, und da sei die Versorgung nach wie vor ausgezeichnet. "Wir müssen an die Patienten appellieren, weitere Wege in Kauf zu nehmen", sagt die KV-Chefin.

Die KV signalisiere den Krankenkassen nicht, dass eine dramatische Wanderungsbewegung eingesetzt habe, sagt der Vorstandsbeauftragte der AOK Berlin Harald Möhlmann. Auch er spricht sich gegen eine erneute Aufgliederung Berlins in mehrere Planungsbezirke aus.

"Ein Weg zurück zu Bezirksgrenzen würde die Honorarverteilungssituation wieder verschlimmern", sagt Möhlmann. KV und Kassen hätten sich aber bemüht, Regeln zu finden, die individuelle Lösungen für die Anpassung der Budgets ermöglichen. Möhlmann verweist auf eine Vorstandsrichtlinie der KV, nach der das Individualbudget eines Arztes dann angepasst werden könne, wenn seine Fallzahlen um zehn Prozent mehr gestiegen sind als im Fachgruppendurchschnitt.

Honorarreform 2008 als Hoffnungsträger

Eine Lösung könnte aus Möhlmanns Sicht auch die Honorarreform bringen. "Ärzte, die jetzt viel arbeiten, haben eine gute Chance, ihre Arbeit ab 2009 durch die Orientierung des Honorars an Fallzahlen und Morbidität besser bezahlt zu bekommen", meint Möhlmann. Das wäre eine Lösung, mit der auch die Neuköllner Gesundheitsstadträtin Vogelsang zufrieden wäre. Sie fordert: "Ärzte in sozial schwachen Bezirken sollten für einen Patienten mehr Geld erhalten als in reichen Bezirken. Denn sie haben mehr Arbeit mit ihren Patienten."

Lesen Sie dazu auch das Interview: "Unsere Nöte werden nicht ernst genommen"

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