HINTERGRUND

Heidelberger Hausärzte liefern Daten, von denen alle Bürger profitieren könnten

Von Marion Lisson Veröffentlicht:
Passanten in der Heidelberger Altstadt. Medizinische Daten auf Gemeindeebene sollen in Heidelberg erfasst und genutzt werden.

Passanten in der Heidelberger Altstadt. Medizinische Daten auf Gemeindeebene sollen in Heidelberg erfasst und genutzt werden.

© Foto: imago

Etwa zwei Dutzend Hausärzte in Heidelberg planen derzeit gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Institut der Praxisärzte und dem WHO Collaborating Center einen Versuch, die Bevölkerung in der Region zu einem gesundheitsbewussteren Verhalten zu bewegen. "Wir haben die flächendeckende Prävention vaskulärer Erkrankungen - wie Herzinfarkt, Schlaganfall und arterielle Verschlusskrankheiten unter Alltagsbedingungen zum Ziel", sagt Professor Egbert Nüssel, Direktor des WHO Collaborating Center in Heidelberg.

Aufgabe des Arztes bei dem Projekt sei es, wie im Praxisalltag üblich, bei seinen Patienten die Risikofaktoren Rauchen, Blutdruck, BMI und Gesamtcholesterin zu prüfen und zu dokumentieren. Ein mit den üblichen Praxisprogrammen kompatibles Software-Programm CARDIOMED werde hierfür in den Praxen verankert. "Der Aufwand für die Kollegen ist nicht groß" so Nüssel. Entsprechend engagierten sich die Vertragsärzte ehrenamtlich an dem Projekt. Nur einmal im Jahr würden die beschriebenen Risikodaten von jeweils zwei Kohorten (100 Frauen, 100 Männer) von den Wissenschaftlern eingesammelt.

Welche Präventionsprojekte sind wo sinnvoll?

"Wir können mit dieser Methode unter anderem später feststellen, inwiefern in bestimmten Stadteilen von Heidelberg die Risikofaktoren von Bewohnern unterschiedlich ausgeprägt sind und welche Präventionsangebote in bestimmten Regionen angeraten werden müssen", beschreibt Nüssel den Nutzen dieser Gemeindemedizin. Im eher wohlbetuchten und biokostkonsumierenden Stadtteil Neuenheim seien dabei andere Zahlen als im Hochhausviertel Boxberg zu erwarten.

Ziel der Gemeindemedizin sei natürlich auch, dass die Ärzte die Motivation zu einem gesundheitsbewussteren Verhalten der Bevölkerung stärken und selbst einen Überblick darüber erhalten, wie der Behandlungserfolg seiner Praxis aussehe und inwiefern Patienten zu einem gesundheitsbewussteren Verhalten zu bewegen seien.

Heidelbergs Bürgermeister Eckehard Würzner habe bereits zugesagt, das sogenannte "Vier-Stufen-Modell" der WHO in den einzelnen Stadtteilen erproben zu wollen, berichtet Nüssel erfreut. Tatsächlich brauchen die Hausärzte bei ihrem Projekt die Unterstützung der Gemeinde. Denn nicht nur in den Hausarztpraxen sollen die Bürger verstärkt Angebote wie zum Beispiel Diabetes-Schulungen, Herzinfarktrehabilitation, Raucherentwöhnung wahrnehmen. Speziell ausgebildete Übungsleiter der Gemeinden sollen zudem gesundheitsfördernde Aktivitäten an Schulen, in Kindergärten, Betrieben und Vereinen gezielt anbieten. Gymnastik mit Stressberatung für Rückenkranke sei hier genauso denkbar wie Aktiv-Treffs zur Herz-Kreislauf-Prävention.

Das Modell sei bundesweit übertragbar, ist Nüssel überzeugt. Und nicht nur das: "An drei Universitäten - in Kaunas, Lodz und Mailand - wird bereits geprüft, ob das Modell in dieser Form auch in Litauen, Polen und Italien realisiert werden kann", kündigt Walter Künnemann, Marketingberater des Projekts, an.

Das "Vier-Stufen-Modell", bei dem die niedergelassenen Ärzte ihr Handeln zudem auf eine breitere wissenschaftliche Basis stellen wollen, ist nicht neu. Erste Vorläufer-Studien zur Gemeindemedizin starteten schon in den 70er Jahren. Die Ergebnisse wurden in Karlsruhe und Bruchsal mit Hilfe der Deutschen Herzkreislauf Präventionsstudie (1984 bis 1990), an der 330 000 Patienten teilnahmen, bestätigt.

Vor allem berufstätige Männer sollen angesprochen werden

In den Jahren 1992 bis 1999 begannen niedergelassene Ärzte im baden-württembergischen Städtchen Östringen eine Erhebung über den Gesundheitszustand ihrer Bürger. 700 Bürger machten hier mit. 22 Übungsgruppen wurden evaluiert. 96 Prozent der Teilnehmer in der Osteoporosegruppe gaben damals beispielsweise an, sich beweglicher zu fühlen, 78 Prozent hatten weniger Schmerzen als zuvor. Das Durchschnittsalter der Osteoporosegruppe lag bei 65 Jahren, der Frauenanteil in allen sechs Gruppen bei 83 Prozent.

Das Interesse der Frauen am Thema Gesundheit sei deutlich größer als das der Männer, fasste damals Dr. Armin Wiesemann, niedergelassener Hausarzt aus Östringen in seiner Bilanz des Projektes zusammen. Besonders wichtig für das Projekt sei es aber, berufstätige Männer zwischen 35 und 50 Jahren zu erreichen. Wiesemann: "Hier scheint die gezielte Ansprache des Hausarztes zukünftig am ehesten erfolgversprechend."

Kooperationspartner werden noch gesucht

Zurzeit sind das WHO Collaborating Center und das wissenschaftliche Institut der Praxisärzte in Heidelberg auf der Suche nach einem gleichberechtigten Kooperationspartner wie zum Beispiel ein international tätiges Pharmaunternehmen oder eine große Krankenkasse. "Diese erhalten im Gegenzug die systematisch erfassten und anonymisierten Ergebnisse aus der medizinischen Intervention", so Künnemann.

STICHWORT

Das Vier-Stufen-Modell der WHO

1. Stufe: Der Arzt überprüft wie gewohnt seinen Behandlungserfolg beim einzelnen Patienten. Er dokumentiert und vergleicht die Befunde der vier Risikofaktoren Rauchen, Blutdruck, BMI und Gesamtcholesterin vor und nach der Behandlung.

2. Stufe: Die Prävalenz für jeden der vier Risikofaktoren wird vor und nach der Behandlung bei einer Gruppe zufällig ausgewählter Patienten verglichen (100 Frauen, 100 Männer).

3. Stufe: Niedergelassene Ärzte treffen sich und vergleichen ihre Ergebnisse auf kollegialer Ebene und tauschen Erfahrungen aus. Die Ergebnisse der Erhebungen in den Hausarztpraxen werden dem Bürgermeister zur Veröffentlichung übergeben.

4. Stufe: Bürgermeister können die Ergebnisse ihrer eigenen Gemeinde mit den Ergebnissen aus den anderen Gemeinden vergleichen. Kommunale Gesundheitsaktivitäten sollen in diesem Sinne verglichen, optimiert und entwickelt werden. (mm)

Lesen Sie dazu auch: Hausärzte kooperieren mit der WHO

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Engagement mit Aussicht auf Erfolg

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