Integrierte Versorgung oder Priorisierung?

BONN (jma). Die Zahl der Patienten mit neuro-psychiatrischen Erkrankungen steigt seit Jahren - im letzten Jahrzehnt gar um 64 Prozent. Ihr Anteil an den gesamten Krankheitskosten wird auf etwa 20 Prozent geschätzt. Die Versorgungssituation in der Psychiatrie dagegen wird immer schlechter. Budgetdruck und zum Teil Rationierung machen den Ärzten zu schaffen. Ist die integrierte Versorgung eine Lösung oder brauchen wir eine Priorisierung der Leistungen?

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"Im Rahmen der Regelversorgung ist eine optimale ambulante Versorgung von psychisch Kranken zurzeit aus budgetären Gründen kaum möglich", erklärte Dr. Frank Bergmann, Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Nervenärzte (BVDN) in der von AstraZeneca unterstützten Veranstaltung Psychiatrie Plenar in Bonn. "Ein ganzheitlicher Therapie-Ansatz, der Pharmakotherapie, psychiatrische Therapie, Psychotherapie sowie Psychoedukation beinhaltet, wird in der Regelversorgung nicht vergütet", so Bergmann weiter.

Professor Urban Wiesing, Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, meinte: "Es ist vertretbarer, allen Bürgern eine Grundversorgung zukommen zu lassen, als nur wenigen einen Zugang zu allem."

Deckelung und Budgets sorgen für implizite Rationierung

Es gelte, an den Rändern der Medizin zu sparen, um den Kern für alle Bürger frei zu halten. Wiesing fordert eine Prioritätensetzung mit demokratischer Legitimation, Transparenz und wissenschaftlicher Begleitforschung. So müssten lebensrettende Maßnahmen klar Vorrang haben im Vergleich zu "Annehmlichkeiten und bequemen Maßnahmen". Derzeit existiere bereits eine schleichende, implizite Rationierung durch Deckelung und Budgets. Dies habe erhebliche Nachteile: Sie sei intransparent, wechselnd, ohne wissenschaftliche Überprüfung und überfordere Ärzte.

Dr. Rainer Hess, Vorsitzender des GBA schränkte ein: "Wir können nicht sektorenübergreifend bewerten. Wir haben nur das Recht, innerhalb einer Indikation zu vergleichen." Hess sieht die Ursache für Verschlechterungen des Versorgungsniveaus nicht beim Bundesausschuss, sondern als Folge von Honorar- und Verordnungsbudgets.

GBA-Chef Hess votiert für ein Verbot von Wettbewerb in der Psychiatrie.

Die Budgetdeckelung habe dazu geführt, so Professor Wolfgang Gaebel, Präsident der DGPPN, dass das Gespräch mit dem Patienten wegen Personalmangels komplett in den Hintergrund getreten sei. "Wir sind doch nicht nur Pillenverordner!"

Im ambulanten Bereich stehen pro Patient und Quartal nur 45 Euro zur Verfügung, erinnert Gaebel. Bergmann: "Man muss sich schämen, dass für solche Beträge überhaupt noch Versorgung geleistet wird."

Viele Einrichtungen - zum Beispiel in der Behindertenbetreuung - lebten nur vom persönlichen Einsatz ihrer Mitarbeiter, sagte Hess: "Ich bin der festen Überzeugung, dass man in der Psychiatrie Wettbewerb verbieten müsste." Das System müsse die Versorgung von Schwerstkranken gewährleisten. Der normale Bürger könne Rationierung verkraften, nicht aber der Schwerstkranke.

Insgesamt werden aber die Möglichkeiten der integrierten Versorgung nach wie vor zu wenig genutzt. Von den mehr als 5 000 gemeldeten Verträgen zur integrierten Versorgung stammen nur 77 aus der Psychiatrie, berichtet Professor Frank Schneider von der Universitätsklinik Aachen.

Ein Beispiel für ein Modell mit guter Akzeptanz bei Ärzten und Patienten ist die Integrierte Versorgung Seelische Gesundheit in Aachen, berichtete Schneider. Die Psychiatrie profitiert von der integrierten Versorgung vor allem durch verbessertes Schnittstellenmanagement zwischen Hausärzten, Fachärzten und der Klinik. Außerdem verbessere Integrationsversorgung die Qualität durch leitlinienorientiertes Arbeiten, interdisziplinäre Qualitätszirkel und Fortbildungen.

"Die Akzeptanz für integrierte Versorgungsmodelle ist groß"

Weitere Bedeutung kommt der intensiven Begleitung von Patienten und deren Angehörigen in psychoedukativen Gruppen zu. Das IV-Projekt startete 2006 zunächst für die Indikation Depression und ist mittlerweile auf schizophrene Psychosen ausgeweitet worden. Bergmann ergänzte: "Die Akzeptanz für integrierte Versorgungsmodelle ist groß - der bürokratische Aufwand muss aber gering gehalten werden."

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