Schmidt drängt auf mehr Hilfe für Kinder

BERLIN (dpa). Angst, Anspannung und Aggression - immer mehr Kinder in Deutschland leiden unter psychischen Problemen. Armut und Sorgen in vielen Familien führen Schätzungen zufolge künftig zu noch mehr Störungen. Dabei zählen kranke Seelen zu den Hauptursachen etwa für die schockierende Zunahme bei Alkoholexzessen Minderjähriger, für Übergewicht und auch Jugendkriminalität. Auf dem Spiel stehen die Chancen immer größerer Teile ganzer Generationen auf Gesundheit, gute Abschlüsse, letztlich auf Zukunft. Politik, Ärzte und Krankenkassen ringen um wirksamere Wege gegen psychische Leiden von Kindern.

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"Psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen sollen in Zukunft besser erkannt und behandelt werden", sagt Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Bei der erst im Juli eingeführten Früherkennungsuntersuchung U7a sollen Ärzte jetzt bereits nach Verhaltensauffälligkeiten schauen.

Bis die Experten im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) auch die anderen, vor über 30 Jahren konzipierten Kinderuntersuchungen erneuert haben, dauert es noch Monate. Zu lange, wie der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte moniert. Im GBA gibt es noch reichlich offene Fragen über eine Neuausrichtung der Untersuchungen auf Kassenkosten. Die Pädiater fordern weit mehr Vorsorge statt Früherkennung.

Risiko: Psychosomatische Leiden werden chronisch

Die Not bei vielen Kindern ist groß. 12 Prozent der Mädchen und 18 Prozent der Jungen sind laut offiziellen Zahlen in ihrem Verhalten auffällig. Damit sind nicht Ein- und Durchschlafprobleme gemeint, die die Hälfte der Vorschul- und Schulkinder plagen, meist aber nicht behandlungsbedürftig sind. Auch das nächtliche Bettnässen bei jedem zehnten Siebenjährigen fällt nicht darunter.

Zehn Prozent der Jungen und Mädchen haben nach Angaben der Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP) Kopf-, Bauch- oder Gliederschmerzen wegen schulischer Überlastung, Scheidung der Eltern oder anderer schwieriger Lebenslagen. Weil diese Leiden häufig nicht erkannt und behandelt werden, werden sie bei über der Hälfte der Kranken chronisch.

Zunahmen gibt es bei dissozialen Störungen, bei denen das Mitgefühl für andere schwindet. Kinderärzte registrieren besorgt mehr Entwicklungsdefizite bei Motorik, Sprache und Sozialverhalten. Zu den 500 000 Minderjährigen mit ADHS kommen nach Schätzungen der Kassenärzte jährlich fünf Prozent hinzu. Mit der Konzentration schwindet bei Betroffenen oft die Schulleistung - Misserfolge erzeugen neuen Frust und vergrößern die Probleme.

Joachim Hübner, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Psychiatrischer Krankenhäuser, bemängelt angesichts dieser Krankheiten: "Nur die Hälfte der Kinder und Jugendlichen erhält eine adäquate Behandlung." Spektakuläre Fälle etwa bei Gewalttaten oder Alkoholtoten unter Jugendlichen sind dabei nur die sichtbarsten möglichen Folgen. Die Leiden sind Sozialforschern zufolge vielmehr häufig Teil von Armutsspiralen jenseits der öffentlichen Wahrnehmung.

Schmidt will konsequente Einladungssysteme

Kinder aus ärmeren Familien mit weniger Bildungschancen haben ein vier Mal so großes Risiko psychischer Störungen. Migranten sind im Schnitt stärker betroffen. Belastend ist nach den Ergebnissen des Robert-Koch-Instituts vor allem schlechtes Klima mit ständigen Konflikten zu Hause. Bis 2020 könnten die psychischen Krankheiten bei Kindern nach internationalen Schätzungen um die Hälfte zunehmen.

Der nun forcierte Ausbau bei der Früherkennung und Vorsorge ist ein Mittel dagegen. Alle sozialen Frühwarnsysteme, Vorsorgehilfen und Beratungsangebote können aus Sicht von Wissenschaftlern ebenso wie gute Kindergärten helfen. Betroffene müssen vor allem erst mal erreicht werden. Obwohl Eltern für Früherkennungsuntersuchungen nichts dazuzahlen müssen, sinkt die Teilnahme im Schnitt bei den eher von Problemen betroffenen Ärmeren. Ministerin Schmidt ruft die Länder deshalb auf, Eltern verstärkt einzuladen.

Schon rund um Schwangerschaft und Geburt sollten die Eltern nicht alleingelassen werden, fordert der Münchner Psychotherapeut Peter Lehndorfer: "Alle Maßnahmen, die dazu beitragen, eine gesicherte Eltern-Kind-Bindung entstehen zu lassen, sind immens wichtig." Schließlich ist für eine gesunde Entwicklung bereits die sichere, facettenreiche und intensive Bindung zwischen Eltern und Baby zentral.

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