Stadt auf dem Sterbebett - Köthen setzt auf die Homöopathie

Um den dramatischen Bevölkerungsrückgang in vielen Gegenden Ostdeutschlands zu stoppen, setzen Städteplaner ein ungewöhnliches Mittel ein: die Homöopathie.

Thomas HommelVon Thomas Hommel Veröffentlicht:
Prinzip Erstverschlimmerung: Plakate in der Köthener Ludwigstraße. © DZVhÄ

Prinzip Erstverschlimmerung: Plakate in der Köthener Ludwigstraße. © DZVhÄ

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BERLIN/KÖTHEN. Die Kleinstadt Köthen in Sachsen-Anhalt ist für die Anhänger der Homöopathie so etwas wie ein Wallfahrtsort. Dr. Samuel Hahnemann, Begründer der Homöopathie, praktizierte hier im frühen 19. Jahrhundert. Und seit Kurzem beheimatet Köthen die "Europäische Bibliothek für Homöopathie" - voll gepackt mit einem großen Angebot an Lehrbüchern, Skizzen und handschriftlich verfassten Berichten.

Neuerdings verbindet Köthen aber noch etwas anderes mit der Homöopathie: Stadtplaner haben die ihr zugrunde liegenden Prinzipien wie etwa "Ganzheitlichkeit" oder "Impulssetzung" für sich entdeckt. Ganz konkret wollen sie damit einem Problem beikommen, das nicht nur Köthen, sondern viele Städte Sachsen-Anhalts plagt: ein massiver Bevölkerungsschwund, der unmittelbar nach dem Mauerfall 1989 einsetzte.

Beispiel Köthen: Zur Zeit der Wende lebten hier rund 33 000 Menschen. Heute ist die Zahl deutlich unter 30 000 gerutscht. In den kommenden Jahren könnten noch einmal bis zu 3000 Menschen der Stadt den Rücken kehren. Die Folgen des Schrumpfungsprozesses sind überall sichtbar: ganze Straßenzüge sind inzwischen verwaist, Restaurants und Arztpraxen haben dicht gemacht, Wohnungen stehen leer. Als besonders drastisch stellte sich die Situation in der Ludwigstraße dar - einer vormals gutbürgerlichen Straße im Herzen Köthens. Heute hat sich hier die Abrissbirne breitgemacht. "In dieser Situation", erzählt der Vorsitzende des Deutschen Zentralvereins für homöopathische Ärzte, Curt Kösters, "hatten wir die Idee, die Ludwigstraße als Patienten zu begreifen, dessen Selbstheilungskräfte aktiviert werden müssen."

Den Anfang der Therapie machte, wie in der Homöopathie üblich, eine Anamnese. Ein Team aus Stadtplanern und homöopathischen Ärzten führte dazu Gespräche mit den Bewohnern der Ludwigstraße - den "Patienten". Da diese die Situation in der Straße als gar nicht so schlimm einstuften, griffen die Therapeuten auf das homöopathische Prinzip der "Impulssetzung" zurück. "Wir klebten an alle Häuser ein Plakat mit der Info: Dieses Haus wird abgerissen", berichtet Kösters. Die Anwohner der Ludwigstraße sollten erkennen, wie prekär die Lage ist. "Es gab aber kaum eine Reaktion - unser Mittel war falsch gewählt."

Also habe man einen noch stärkeren Impuls gesetzt und an einem dunklen Dezemberabend für 15 Minuten die Straßenlaternen an der Ludwigstraße ausgeschaltet - getreu dem homöopathischen Prinzip der "Erstverschlimmerung" durch temporäre Verstärkung der Symptome, um so den Körper des Patienten - hier die Bewohner der Ludwigstraße - dazu zu bringen, selbst für einen Ausgleich zu sorgen. Und siehe da: Diesmal passten Mittel und Dosierung. "Auf der anschließenden Anwohnerversammlung tobte sprichwörtlich der Volkszorn, die Apathie war durchbrochen." In den folgenden Wochen seien an die 50 verschiedene Projektvorschläge und Anfragen bei der Stadt eingegangen, wie der Verfall der Ludwigstraße gestoppt und der drohende Abriss vieler Wohnhäuser verhindert werden konnte. Die Ideen reichten von einem Mehrgenerationenhaus über ein Freilichtkino und ein Rucksackhotel für junge Menschen bis hin zu einem konkreten Kaufinteresse an einigen Häusern in der Ludwigstraße. Kösters ist zufrieden: "Wir haben es geschafft, die Bewohner der Ludwigstraße dazu zu bringen, das Problem selber anzupacken und eine Lösung zu finden. Das zeigt: Die Homöopathie ist eine Entwicklungskraft, die auch gegen die Schrumpfung von Städten wirkt." Inzwischen habe sich das Team zwei weiteren "Brennpunkten" in Köthen zugewandt.

Lesen Sie dazu auch: Eine Schatzkammer der Homöopathie

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