Methusalem ruiniert die Sozialkassen nicht

Zu den Mythen des Gesundheitssystems gehört die Formel: Mehr alte Patienten, mehr Kosten. Statistiker haben jetzt Klinikdaten untersucht, die zeigen: Differenzierung tut Not.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:

WIESBADEN. Die Deutschen werden im Durchschnitt immer älter, also steigen die Kosten im Gesundheitswesen künftig überproportional: Diese Aussage ist ein Evergreen in der gesundheitspolitischen Debatte.

Doch sie verkürzt komplexe Zusammenhänge. Denn der vermeintlich kausale Schluss, die Krankheitskosten stiegen aufgrund des Alters überproportional, hält einer genaueren Überprüfung nicht stand, hat eine Untersuchung des Statistischen Bundesamtes ergeben.

Die Sozialwissenschaftlerin Manuela Nöthen, Referentin für Gesundheitsstatistik beim Statistischen Bundesamt, hat Daten aus der Krankheitskostenrechnung, der fallpauschalenbezogenen Krankenhausstatistik und der Bevölkerungsvorausberechnung des Bundes und der Länder ausgewertet.

Die Kostenexplosion scheint unausweichlich

Auf den ersten Blick scheint alles für die Formel "je älter, desto teuer" zu sprechen: Im Jahr 2008 haben die durchschnittlichen Krankheitskosten für jeden Einwohner in Deutschland - ob krank oder gesund - 3100 Euro betragen.

Doch bei den 65- bis 84-Jährigen beliefen sich die durchschnittlichen Kosten auf 6520, bei über 85-Jährigen auf 14.840 Euro.

Extrapoliert man diese Zahlen, dann scheint eine Kostenexplosion programmiert. Die Sozialwissenschaftlerin Nöthen hinterfragt diese Prognose mit Hilfe der Sterbekostenthese.

Danach fällt ein Großteil der Krankheitskosten eines Menschen am Lebensende an, und zwar unabhängig vom Alter. Die hohen Pro-Kopf-Kosten alter Menschen erklären sich vor diesem Hintergrund mit der Tatsache, dass das Sterberisiko mit dem Alter steigt.

Um dieser These nachzugehen, hat sich Nöthen auf den stationären Sektor konzentriert. Zum einen, weil dort die Datenlage am besten ist, zum anderen, weil rund jeder zweite Sterbefall in einem Krankenhaus geschieht.

Drittens liegen durch das Fallpauschalensystem auch detaillierte Daten zu den Kosten vor; mit 66,7 Milliarden Euro entfielen im Jahr 2008 rund ein Viertel der Gesamtkosten im Gesundheitswesen auf den stationären Sektor.

Die Ausgaben, erläutert Nöthen, "sind mehr als doppelt so hoch wie die in Pflegeeinrichtungen mit 28,5 Milliarden Euro".

Wie bei den Gesamtkosten im Gesundheitswesen zeigt sich auch bei den Krankheitskosten in der Klinik, dass die durchschnittlichen Behandlungskosten mit dem Alter steigen.

Sie sind in der Altersgruppe der 65- bis 84-Jährigen mit 4330 Euro je Krankenhausbehandlung am höchsten, bei den über 85-Jährigen liegt der Wert mit 3850 Euro deutlich niedriger. Der Durchschnitt für die Klinikpatienten über alle Altersgruppen hinweg beträgt 3720 Euro.

Trennt man aber die bundesweit 17,9 Millionen Patienten nach Sterbefällen und nach entlassenen Patienten auf, so zeigt sich ein anderes Bild.

Über alle Altersgruppen hinweg sind die Behandlungskosten der in der Klinik gestorbenen Patienten mit 8650 Euro 2,4-mal höher als im Fall einer Entlassung des Patienten.

Doch hier gibt es gravierende Unterschiede je nach Altersgruppe: Am höchsten sind die Kosten mit 20.430 Euro bei Kindern bis zu 14 Jahren, die im Krankenhaus sterben, im Fall einer Entlassung der jungen Patienten entstehen Kosten von 3610 Euro.

Die Kosten eines Sterbefalls in dieser Gruppe sind also 8,2-mal höher als die bei einer Entlassung. Dieser extreme Unterschied nimmt mit wachsendem Alter der Patienten kontinuierlich ab.

Bei hochbetagten Patienten über 85 Jahre sind die Kosten im Sterbefall mit 4890 Euro nur noch 1,3-mal so hoch wie bei einer Entlassung (3750 Euro).

Dieser Unterschied relativiert sich freilich, wenn die schließlich gestorbenen Patienten im letzten Lebensjahr mehrfach hospitalisiert worden sind.

Als Zwischenfazit ergibt sich, dass die Behandlungskosten bei Sterbefällen für ältere und hochbetagte Menschen um ein Vielfaches unter denen für junge Menschen liegen. Erklärungsgründe dafür sind rar, sagt Nöthen.

"Eine Rolle scheint dabei die Behandlungsdauer zu spielen, denn bei den Sterbefällen gehen im Alter nicht nur die durchschnittlichen Behandlungskosten zurück, sondern auch die durchschnittliche Verweildauer", berichtet sie.

Behandlungskosten steigen um maximal 13 Prozent

Vor diesem Hintergrund hat die Sozialwissenschaftlerin den rein demografischen Aspekt bei der Entwicklung der Krankheitskosten in Krankenhäusern bis 2030 berechnet.

Dabei unterscheidet sie zwei Szenarien: In einem Szenario wird nur die demografische Entwicklung beobachtet, alle anderen Parameter bleiben unverändert (Status-quo-Szenario).

Im zweiten Szenario wird unterstellt, dass sich die Morbidität parallel zur steigenden Lebenserwartung in ein höheres Alter verschiebt - sprich: die Menschen gesünder als heute älter werden. Dies bezeichnen Fachleute als "Kompression".

Je nach gewähltem Szenario werden die Behandlungskosten bis zum Jahr 2030 entweder um fünf Prozent (Kompressions-These) oder um 13 Prozent steigen. Selbst im zweiten - pessimistischen - Fall lägen die Klinikkosten mit 75,5 Milliarden Euro nur mäßig über den Ausgaben im Basisjahr 2008 (66,7 Milliarden Euro).

Stärker steigen werden in beiden Szenarien die Behandlungskosten am Lebensende. Angesichts der vergleichsweise geringen Ausgaben für gestorbene Patienten (2008: 5,2 Prozent der Gesamtkosten) fällt der Zuwachs auf 5,5 Prozent im Kompressions-Szenario und 6,1 Prozent im Status-quo-Szenario aber gering aus.

Als Fazit bleibt festzuhalten: Die demografisch bedingte Ausgabenentwicklung im Krankenhaus gibt keine Hinweise auf eine "Kostenexplosion".

Es ist ein Kurzschluss, von der Morbiditätsentwicklung auf Ausgabenszenarien zu schließen. Allerdings, schränkt Nöthen ein, könne der "demografische Wandel nur einen Teil der Kostenentwicklung erklären".

Weitere Faktoren seien etwa "der medizinisch-technische Fortschritt, die Entwicklung der Wohlfahrt und die Teuerung".

17,5 Millionen Entlassungen, 400.000 Sterbefälle

Im Krankenhaus wird behandelt und geheilt - und auch gestorben. Im Jahr 2008 hat es 17,5 Millionen Entlassungen und 400.000 Sterbefälle in deutschen Krankenhäusern gegeben. Die gestorbenen Patienten verursachten 5,2 Prozent der Gesamtkosten von 66,7 Milliarden Euro. Auch dies lässt sich nach Altersgruppen differenzieren. So verursachten Patienten zwischen 65 bis 84 Jahre etwa 39 Prozent der gesamten Behandlungskosten, doch nur 3,1 Prozent der Kosten entfallen auf Patienten dieser Alterskohorte, die in der Klinik gestorben sind.

Ursächlich für diese Kostenverteilung sind die hohen Fallzahlen in dieser Altersgruppe: 6,2 Millionen Patienten wurden entlassen, 230.000 starben in der Klinik. Diese Daten stützen die These, dass ein Großteil der über die Lebensspanne hinweg entstehenden Krankheitskosten im letzten Jahr vor dem Tod entstehen, und zwar unabhängig vom chronologischen Alter.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Die Mär von der Kostenexplosion

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