Das Leid der Boombranche

Sie boomt, hat aber auch etliche Handicaps: die Gesundheitswirtschaft. Welche das sind, ist auf dem Hauptstadtkongress deutlich geworden – nur die Lösungen fehlen. Gesundheitsminister Bahr prophezeit der Branche dennoch eine goldene Zukunft. Im Video-Interview erklärt er außerdem, warum Ärzte die E-Card unbedingt brauchen.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:

BERLIN. Fünf Millionen Beschäftigte, 260 Milliarden Euro Umsatz, elf Prozent Anteil an der Wirtschaftsleistung - nicht Automobil- oder Maschinenbau sind die stärksten Branchen Deutschlands, sondern seine Gesundheitswirtschaft.

Und in einer alternden Gesellschaft ein Wirtschaftssektor, der mit steigendem Bedarf sicher rechnen darf.

Soweit die Globalbetrachtung. Geht man näher ins Detail, dann zeigen sich die vielen Facetten der Branche, ihre Differenziertheit, ihre Probleme und Widersprüchlichkeiten, die Konflikte mit der Politik, die ungenutzten Potenziale und die Chancen, die manchmal auch aus Ängstlichkeit vergeben werden.

Am härtesten trifft es im Moment die forschende pharmazeutische Industrie. Sie entwickelt Arzneimittel für die ganze Welt, heute mit einem starken Fokus auch auf die Entwicklungsländer, die die Wachstumsmärkte von morgen sein werden.

Beispiel Sanofi, eines der Welt-Unternehmen mit bedeutendem Forschungs- und Produktionsstandort in Deutschland. Die Zusammenhänge sind komplex, wie Hans Peter Spek von Sanofi verdeutlicht: Am Standort Frankfurt produziert Sanofi nach Speks Angaben Hightech-Arzneimittel, vor allem Insulin, im Wert von 3,7 Milliarden Euro.

Ein komplexer Kreislauf

87 Prozent davon gehen in den Export, nur 13 Prozent in den deutschen Markt. 8000 Menschen arbeiten bei Sanofi, aber weitere 19.000 Arbeitsplätze hängen von den Aktivitäten von Sanofi ab, darunter vor allem in Kooperationen mit Universitäten wie der Charité oder bei den Max-Planck-Gesellschaften.

700 Milionen Euro steckt Sanofi in die Forschung, viel davon kommt deutschen Wissenschaftlern zugute. Und die Belastung für die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland: für Sanofi-Medikamente geben sie rund 1,3 Milliarden Euro aus, und das entspricht exakt der Summe, die die deutschen Sanofi-Betriebsstätten und ihre Mitarbeiter an Steuern und Sozialabgaben zahlen.

Es ist ein komplexer Kreislauf, der empfindlich gestört werden könnte durch die spezielle Ausgestaltung der frühen Nutzenbewertung und der daraus folgenden Erstattungspreise: Die werden nämlich auch Signalpreise für das Ausland sein, denn Deutschland ist international Referenzmarkt.

Unausgesprochen steht nach Speks Analyse die Frage im Raum: Wie wichtig bleibt Deutschland für Sanofi, wenn dort nur noch ein Umsatzanteil von fünf Prozent in einem stagnierenden Markt erzielt werden kann, die Preissignale aus diesem Markt aber nach unten gehen?

Schulterklopfen vom FDP-Minister

"Mit der frühen Nutzenbewertung und den folgenden Preisverhandlungen haben wir Neuland betreten" - so weit das Zugeständnis von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr. Aber an den Grundsätzen des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes werde nicht gerüttelt.

Beim Nachweis eines Zusatznutzens werde es auch einen fairen Erstattungspreis geben. Nicht möglich sei es hingegen, bei medizinischen Innovationen - anders als etwa bei Automobilen - deren Verfügbarkeit nach der Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft zu differenzieren.

Im Übrigen ist Bahr sich sicher: Seit ein Bankkaufmann und Diplom-Volkswirt das Gesundheitsministerium leitet und ein Arzt Chef des Wirtschaftsressorts ist, ist die integrierte Betrachtungsweise der Gesundheitswirtschaft gesichert.

Weniger die Politik als vielmehr ängstlich-konservative Kundschaft im Medizinbetrieb sind für René Obermann, den Vorstandsvorsitzenden der Telekom, ein Hemmnis.

In der Anwendung von IT steht Deutschland in einem OECD-Ranking auf Platz 14. Obwohl die Mehrheit der Deutschen eine intelligente elektronische Gesundheitskarte befürwortet, habe erst der jüngste Deutsche Ärztetag erneut seine Vorbehalte artikuliert.

Dennoch ist E-Health für den Telekom-Chef eine der neuen Baustellen mit großem Wachstumspotenzial. Nach zwei Jahren sei inzwischen die 100-Millionen-Euro-Grenze überschritten worden.

Umsatzsteuer für Gesundheitsleistungen?

Nicht mit dem Zweck, die Gesundheitskosten insgesamt weiter aufzublähen, sondern effizienter mit knapperen Arbeitsressourcen umzugehen: etwa telemedizinische Lösungen für die ärztliche und pflegerische Versorgung auf dem Land, für die Vernetzung interdisziplinärer Teams in der Palliativversorgung oder für Video-Fallkonferenzen, deren Teilnehmer sich Patientendaten aus der Cloud holen und hunderte von Kilometern voneinander entfernt arbeiten.

Roland Koch, einst hessischer Ministerpräsident, heute Chef von Bilfinger Berger, wird heute meist mit Baggern und Großbauten in Verbindung gebracht. Doch das Unternehmen hat auch Fähigkeiten in Klinikbau und Facility-Management.

Koch: Ein Krankenhausbett verzehrt pro Jahr 3500 Euro Energie - ein Drittel davon kann man durch optimierte Prozesse einsparen. Dies externen Fachleuten zu übertragen, wird gescheut.

Ein Grund ist, dass die Kliniken, aber auch Pflegeheime für externe Leistungen 19 Prozent Umsatzsteuer bezahlen müssen, die sie nicht als Vorsteuer abziehen können. Kehrseite des Steuerprivilegs der meisten Leistungsanbieter im Gesundheitswesen, auch der Ärzte.

Gesundheitsleistungen umsatzsteuerpflichtig zu machen - wie dies nur bei Arzneimitteln der Fall ist -, das ist ein Ding der Unmöglichkeit, wie der Realpolitiker Roland Koch weiß.

Montgomery für ruhige Debatten

Die Diskussionskultur im Gesundheitswesen stellte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK) Dr. Frank Ulrich Montgomery am Mittwoch in den Mittelpunkt seines Grußwortes.

Der Hauptstadtkongress schaffe über alle Berufs- und Standesgrenzen hinweg einen ruhigen, sachlichen, interessengeleiteten, wissenschaftlichen und oft ethisch fundierten Dialog. Der stehe im Kontrast zu der Aufgeregtheit, mit der die Gesellschaft wichtige Themen diskutiere.

Montgomery berührte das Thema nicht ohne Hintergedanken. Ohne sie direkt anzusprechen, wandte er sich an die Vertreter des GKV-Spitzenverbandes.

Kongresse wie das Großereignis in Berlin seien die richtigen Orte, um aus fehlverstandenen und -interpretierten Meldungen gespeiste Vorwürfe von Korruption, Durchstecherei und unethischem Verhalten zu besprechen.

So vorzugehen würde der Debatte die Aufgeregtheit nehmen und die Grundlage für konstruktive Lösungen schaffen, sagte Montgomery.

Der Kassenverband hatte zur Eröffnung des Ärztetages in Nürnberg vor drei Wochen Korruptionsvorwürfe gegen Ärzte und Kliniken lanciert würden.

Mitarbeit: Anno Fricke

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