Zehn Jahre Merkel

Ein fast geräuschloser Paradigmenwechsel

"Zuerst einmal nicht schaden" - dieser ärztliche Grundsatz könnte auch die Maxime von Angela Merkel sein. Am Sonntag feiert die Bundeskanzlerin Jubiläum: Vor zehn Jahren legte sie ihren Amtseid ab. Eine Zwischenbilanz.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Vor zehn Jahren: Am 22. November 2005 legte Angela Merkel (CDU) erstmals ihren Amtseid als Bundeskanzlerin ab.

Vor zehn Jahren: Am 22. November 2005 legte Angela Merkel (CDU) erstmals ihren Amtseid als Bundeskanzlerin ab.

© Bergmann / dpa

BERLIN. "Keine Experimente!" Mit diesem Grundsatz hatte Konrad Adenauer bei den Bundestagswahlen im Wirtschaftswunderjahr 1957 die absolute Mehrheit für die Union im Bundestag gewonnen - und seitdem haben die Deutschen des greisen Kanzlers Maxime über Jahrzehnte verinnerlicht.

Fast 50 Jahre später, 2003, musste Kanzler Gerhard Schröder - nolens volens - nach Jahren der Lähmung und des Reformstillstands das Experiment wagen: Mit der Agenda 2010 sollten die Verkrustungen am Arbeitsmarkt gelöst werden.

"Fordern statt Fördern" wurde zur Richtschnur, mit der Gesundheitsreform von 2003 wurde die Praxisgebühr eingeführt, rezeptfreie Arzneien gab es nicht mehr auf Kassenrezept. Der Wahlbürger reagierte sauer.

Auch die CDU setzte auf ihrem Leipziger Parteitag 2004 Reformen auf die Agenda: Die Ablösung des einkommensabhängigen Krankenkassenbeitrags durch die Gesundheitsprämie (von der SPD als "Kopfpauschale" apostrophiert) und eine von dem Heidelberger Verfassungsrechtler Paul Kirchhof entworfene Einkommensteuerreform, mit der die Steuererklärung "auf dem Bierdeckel" möglich werden sollte. Der Wahlbürger reagierte sauer.

Hauchdünn war am Ende der Vorsprung der Union mit 35,2 Prozent, Kanzlerin Angela Merkel musste ihre Macht mit einer auf 34,7 Prozent geschrumpften SPD teilen, die ihren Markenkern verloren hatte.

Kopfprämie versus Bürgerversicherung

In der Gesundheitspolitik galt es, einen Ersatz für die konträren Konzepte - Bürgerversicherung einerseits und Gesundheitsprämie andererseits - zu finden.

Das Ergebnis sah zunächst nach einer Kopfgeburt aus und wurde in den ersten Runden von nahezu allen Beteiligten und Betroffenen im Gesundheitswesen auf das Heftigste bekämpft: der Gesundheitsfonds, der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) und die sogenannte "kleine Gesundheitsprämie".

Doch innerhalb der Koalition hielt der Kompromiss, er trat 2009 in Kraft und erwies sich bei der Abwehr der Folgen der Finanzkrise für das Gesundheitswesen als segensreich. Denn der Gesundheitsfonds war ein ideales Instrument, einen kurzfristig aufgestockten Steuerzuschuss an die Kassen zu verteilen.

Damit wurden aber auch Verantwortungsbereiche neu abgesteckt: So hat nun die Politik zu verantworten, welche Last Arbeitgeber und Arbeitnehmer paritätisch tragen sollen.

Der Preiswettbewerb der GKV beschränkt sich seitdem auf den Zusatzbeitrag, was von den Kassen stets als Zumutung empfunden worden ist.

Was heute kaum noch erinnert wird: Mit dem Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007 wurde ein Paradigmenwechsel seit 30 Jahren eingeleitet - die Abkehr von der einnahmenorientierten zur morbiditätsorientierten Ausgabenpolitik.

Die GKV sollte sich nun auf die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft einstellen, steigende Gesundheitsausgaben und ein sprunghaft wachsender Anteil am Sozialprodukt, wie beispielsweise im Krisenjahr 2009, waren nun kein kritikwürdiges Tabu mehr.

Dass sich die deutsche Wirtschaft nach 2009 rasch erholte, war ein Glücksfall in mehrfacher Hinsicht: Die sprudelnden Einnahmen aller Sozialversicherungen bewahrten die Kanzlerin davor, die Gesundheitspolitik zur Chefsache machen zu müssen.

Und sie verschonten - mit Ausnahme der Pharma-Industrie - Ärzte und Krankenhäuser vor schmerzhaften Einschnitten.

Vorbereitung auf die alternde Gesellschaft

Im Gegenteil: Gerade die Gesetzgebungskaskade 2015 offenbart große Bereitschaft, den Gesundheitssektor auf Wachstum zu programmieren.

Mehr Geld für die Weiterbildung in der Allgemeinmedizin und für innovative Versorgungskonzepte, ein Strukturfonds für Krankenhäuser, massive Ausweitung von Pflegeleistungen - damit wird das Leistungsangebot für eine alternde Gesellschaft um- und ausgebaut.

Der Blick der Politik auf die Leistungserbringer im Gesundheitswesen hat sich dabei fundamental verändert: Sie sind nicht mehr primär Verursacher von Kosten im Wirtschaftssystem, sondern dessen integraler Bestandteil. Jobmotor, Leistungsträger, Innovator.

Dass diese Politik von den Ministern Gröhe, Wanka und Gabriel fast geräuschlos exekutiert wird, gehört auch zum Markenkern Merkelscher Politik der Vermeidung von Nebenwirkungen.

So ist es ungewohnt, wenn die Kanzlerin ins politisch Grundsätzliche geht. Geschehen ist dies in der Flüchtlingspolitik mit der kategorischen Ablehnung einer Obergrenze für Asylbewerber und dem Imperativ an die Gesellschaft: "Wir schaffen das!"

Dass dies am Ende auch Zumutungen bedeuten kann, wird der sonst risikoscheuen Kanzlerin bewusst sein.

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