Interview

"Auf Augenhöhe mit den Professionellen"

Die Berliner Charité beschäftigt an mehreren Standorten ehemalige Psychiatrie-Patienten, die sich zu "Genesungsbegleitern" qualifiziert haben. Professor Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, erklärt, wie deren Arbeit die Behandlung ergänzt.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:
Professor Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie: Genesungsbegleiter bringen eine andere Perspektive auf die Station mit.  

Professor Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie: Genesungsbegleiter bringen eine andere Perspektive auf die Station mit.  

© Susanne Werner

Ärzte Zeitung: Warum sind ehemalige Patienten als Genesungsbegleiter gerade in der Psychiatrie so wichtig?

Prof. Dr. Andreas Heinz: Die Genesungsbegleiter bringen eine andere Perspektive auf die Station mit. Das ist sehr wertvoll, denn das Verhältnis zwischen psychiatrischer Klinik und den Patienten ist aus drei Gründen oft schwierig. Erstens hat dies mit der Erkrankung zu tun. Wer depressiv ist, hat beispielsweise wenig Vertrauen in die zuversichtlichen Aussagen anderer Menschen – eben auch in jene der Ärzte und Therapeuten. Zweitens ist die Psychiatrie in Extremfällen eben auch ein Ort, in den man gegen seinen Willen eingewiesen werden kann. Drittens können sich psychische Erkrankungen chronifizieren. Patienten müssen lernen, wie sie damit leben können.

Andreas Heinz

Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin Mitte seit 2002.

Anfang 2017 wurde Professor Heinz zum President elect der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) gewählt. Dem DGPPN-Vorstand gehört er bereits seit 2009 an.

Seit 2012 bis Anfang 2017 war er zudem stellvertretender Vorsitzender der Aktion Psychisch-Kranker, einer Vereinigung zur Psychiatriereform.

Gibt es Patientengruppen, die besonders von der Arbeit der Genesungsbegleiter profitieren?

Grundsätzlich können sich Menschen anderen Menschen sehr unterschiedlich öffnen. Mit den Genesungsbegleitern erhalten die Patienten, die sich mit den professionellen Helfern schwertun, einen alternativen Ansprechpartner. Sie helfen den akut betroffenen Patienten besonders bei der Bewältigung von alltäglichen Fragen. Eben jenseits von Therapie und Sozialarbeit. Sie bringen ihre eigenen Erfahrungen mit und können damit oft ganz praktisch unterstützen. Zum Beispiel: Kann ich ein Studium fortsetzen oder überfordert es mich? Oder: Was mache ich, wenn ich innerlich Stimmen höre? Kann ich diese ignorieren oder soll ich das Radio laut aufdrehen? Die Genesungsbegleiter erzählen, wie sie diese und ähnliche Herausforderungen bewältigt haben. Die größte Gefahr ist, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen massiv vereinsamen und niemanden haben, an den sie sich im Notfall wenden können.

Profitieren auch Ärzte und Pflegekräfte vom Einsatz der Genesungsbegleiter?

Genesungsbegleiter übernehmen eine Brückenfunktion auf der Station, die für alle Seiten gewinnbringend ist. Schließlich haben häufig auch Ärzte und Pflegekräfte – wie viele andere in der Gesellschaft – Ängste vor einer psychischen Erkrankung. Sie sorgen sich vielleicht sogar, ob sie selbst so etwas erleiden könnten. Daher ist die innere Abgrenzung oft hoch. Auf den Stationen arbeiten die Genesungsbegleiter auf Augenhöhe mit den professionellen Kräften zusammen. Deren Perspektive rückt damit näher an die Professionellen heran und wird eher verstanden. Das mindert auch mögliche Ängste im Team.

Wird man als professioneller Helfer im Laufe der Berufsjahre "blind"?

Es ist wichtig, sich immer wieder selbst zu reflektieren und sich unterschiedlichen Perspektiven zu öffnen. Daher haben wir an unserer Klinik einen Beirat mit Angehörigen und Akteuren von Selbsthilfegruppen eingerichtet, mit dem wir uns vierteljährlich austauschen. Das Gremium analysiert beispielsweise auch unsere Statistik und fragt nach, wenn gehäuft Zwangsbehandlungen erfolgt sind.

Bei der Anhörung des Deutschen Ethikrates zum Thema Zwangsbehandlungen hatten Sie als Experte beklagt, dass Psychiatrien auch missbraucht werden, damit der Rest der Gesellschaft unbehelligt leben kann. Was meinen Sie damit genau?

Die psychiatrischen Kliniken werden oft mit Kontrolle und Disziplinierung verbunden. Sie stehen für das, was aus Sicht vieler Menschen nicht passieren darf. Dieses hohe Sicherheitsbedürfnis können wir jedoch gar nicht einlösen. Zwar ist die Gesellschaft inzwischen eher bereit, Menschen mit Depressionen im eigenen Umfeld zu tolerieren, Menschen mit Psychosen haben es nach wie vor schwer. Wir können Psychisch-Kranke jedoch nicht dauerhaft wegsperren. Es kommt auf den sozialen Umgang damit an. Konflikte etwa in der Nachbarschaft sind auch mal auszuhalten und zu lösen.

Wie werden die Genesungsbegleiter bislang finanziert?

Es sind meistens Sonderverträge mit den Krankenkassen, in die auch die ambulante Versorgung eingeschlossen ist. Zum Teil werden sie über Modellprojekte finanziert. Ziel ist es, die Genesungsbegleiter innerhalb der Regelversorgung finanzieren zu können. Jeder niedergelassene Arzt oder Therapeut sollte Kontakt zu Genesungsbegleitern haben und bei Bedarf auf deren Unterstützung verweisen können. So ließe sich ein Netz für Psychisch-Kranke aufbauen, über das sie frühzeitig im Alltag begleitet werden könnten.

Lesen Sie dazu auch: Psychische Krankheiten: Ex-Patienten helfen in der Psychiatrie

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