Deutungshoheit des Arzneiverordnungsreports ist passé

Wird über Innovationen gestritten, kommt früher oder später der Arzneiverordnungsreport (AVR) zur Sprache.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:

Seit 1984 sorgt der im Herbst erscheinende Report für hitzige Diskussionen über vermeintlich überflüssige Arzneiausgaben. Das Ritual wiederholt sich Mitte Oktober: Die AVR-Herausgeber des inzwischen über 1000 Seiten starken Werks diagnostizieren jedes Jahr aufs Neue Verschwendung in Milliardenhöhe. Die politische Botschaft: Würden Ärzte vor allem auf die Verordnung von so genannten Scheininnovationen verzichten, wäre der medizinische Fortschritt für alle Kassenpatienten bezahlbar.

Im Zentrum der Kritik am AVR steht seit Jahren, wie die Autoren die Veränderung der Arzneimittelausgaben erklären. Außer Mengen- und Preisveränderungen leiten die AVR-Herausgeber Professor Ulrich Schwabe und Dr. Dieter Paffrath vor allem aus der Strukturkomponente Forderungen nach Einsparungen bei Arzneimittelverordnungen ab.

Vermutete Einparpotenziale gehen in die Milliarden

Diese ergibt sich im AVR aus der Ausgabenveränderung, bereinigt um Mengen- und Preisänderungen. So soll ermittelt werden, in welchem Umfang verordnende Ärzte von älteren - in der Regel preiswerten -  Präparaten auf neue, hochpreisige Substanzen umgestiegen sind. Dabei wird unterstellt, dass viele der neuen Substanzen zwar mehr kosten, aber keinen zusätzlichen Nutzen haben.

Doch im AVR ist die Strukturkomponente eine Catch-all-Größe. Das heißt: Alles, was sich bei der Ausgabenentwicklung nicht durch Preis- und Mengenänderungen erklären lässt, geht in die Strukturkomponente ein. Entsprechend voluminös fallen im Verordnungsreport die addierten theoretischen Einsparpotenziale aus: Im Jahr 2007 waren dies 2,8 Milliarden Euro bei Generika und 1,4 Milliarden Euro für Analogpräparate.

Wie jedes Jahr wurden auch im vergangenen Herbst die im AVR angenommenen Wirtschaftlichkeitsreserven harsch von Vertretern der Arzneimittelhersteller kritisiert. "Antik und ideologisch" nannte Henning Fahrenkamp, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie, die Berechnungen.

Doch der Verordnungsreport hat ohne Zweifel die Debatte über die Bezahlbarkeit von Innovationen über 20 Jahre lang beeinflusst. Dr. Jan Geldmacher, Arzneimittelexperte und Vorstandsmitglied der KV Baden-Württemberg, bekannte, vor zwei Dekaden habe er vor Buchläden auf die neue AVR-Ausgabe gewartet wie heutzutage Jugendliche vor Elektronikläden auf neue Spielkonsolen.

Erst als ihm klar wurde, wie Politiker die Aussagen des AVR für ihre Zwecke verwenden, schwand seine Bewunderung für den Report. Doch schon längst hatte das jährliche Credo über die vermeintliche Verschwendung und Fehlversorgung Früchte getragen. Die AVR-Autoren dürfen es sich zu Gute halten, politische Stimmungen mitgeprägt zu haben, die zur Gründung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) geführt haben.

Arzneimittelatlas bietet eine konkurrierende Deutung

Doch seit 2006 gibt es für enttäuschte AVR-Leser eine Alternative und eine mit dem Report konkurrierende Deutung der Ausgabenentwicklung: Der Arzneimittel-Atlas, der seitdem jährlich unter Leitung von Professor Bertram Häussler vom Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) erstellt wird, will besonders die Strukturkomponente differenzierter beleuchten als der AVR.

Dazu beschreibt der Atlas die Strukturveränderungen innerhalb von insgesamt 95 Indikationsgebieten. Damit kann kausal der Ersatz älterer durch neue Therapien beschrieben und gemessen werden. Damit erhält die Diskussion um den verstärkten Einsatz von Innovationen eine methodisch rationale Grundlage.

Im jüngsten Arzneimittel-Atlas für 2007 bezifferte IGES-Chef Häussler die Strukturkomponente als Indikator für die Modernisierung der Therapie auf 266 Millionen Euro - bei Gesamtausgaben für Arzneimittel in der GKV von 27,8 Milliarden Euro.

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