Ein Jahr Tauziehen um den Zusatznutzen

Am 16. Januar war das Dutzend voll. Für so viele 2011 eingeführte Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen hatten die Hersteller eine Nutzenbewertung des IQWiG vorliegen.

Von Bertold Schmitt-Feuerbach Veröffentlicht:
Das AMNOG bescherte dem GBA ein enormes Arbeitspensum.

Das AMNOG bescherte dem GBA ein enormes Arbeitspensum.

© Gemeinsamer Bundesausschuss

BERLIN. Das Neuland, das alle Beteiligten mit dem AMNOG vor einem Jahr betreten haben, ist so weit beackert, dass man eine erste Bilanz ziehen kann.

Rezepte mit Allgemeingültigkeit für die zukünftigen Verfahren lassen sich daraus noch nicht ableiten, aber Anhaltspunkte dafür, wie IQWiG, GBA und Arzneimittelhersteller sich auf dem neuen Feld bewegen.

Drei Bewertungsverfahren bereits abgeschlossen

Die drei Verfahren, die der GBA bereits abgeschlossen hat (Stand: 16. Januar), gingen weitgehend reibungslos über die Bühne. Über die erste Freistellung von der frühen Nutzenbewertung nach Paragraf 35a Absatz 1a SGB V konnte sich Orion Pharma freuen.

Ein Dutzend entschiedene oder weit forgeschrittene Verfahren bieten Anlass für eine Zwischenbilanz.

Sein Präparat Dexdor® (Dexmedetomidin) musste nicht auf den IQWiG-Prüfstand, weil die zu erwartenden Ausgaben der Kassen für das Arzneimittel laut Feststellung des GBA geringfügig sind. Es ist für die Sedierung von Patienten auf der Intensivstation zugelassen.

Eine schnelle Entscheidung fand der GBA auch für das jüngste Statin im deutschen Markt. Der Hersteller von Pitavastatin (Livazo®), Recordati, verzichtete auf die Vorlage eines Dossiers.

Das Arzneimittel wurde daraufhin schon im August ohne Stellungnahmeverfahren in die Festbetragsgruppe der HMG-CoA-Reduktasehemmer eingeordnet. Recordati und Lizenzgeber Kowa hatten sogar schriftlich ihr Einverständnis mit der Entscheidung mitgeteilt. Der Festbetrag für Livazo® gilt seit 1. Oktober.

Brilique® eröffnet Reigen der Preisverhandlungen

Ebenfalls abgeschlossen ist das Bewertungsverfahren für Brilique® (Ticagrelor) von AstraZeneca. Das IQWiG hatte dem Plättchenhemmer schon einen beträchtlichen Zusatznutzen im Vergleich zu Clopidogrel für Patienten mit instabiler Angina Pectoris sowie bei Patienten mit Myokardinfarkt ohne ST-Streckenhebung bescheinigt.

Der GBA setzte noch eins drauf und erkannte abweichend vom Institut auch noch einen - nicht quantifizierbaren - Zusatznutzen für zwei weitere Subgruppen von Patienten mit koronarer Herzkrankheit an.

AstraZeneca hätte sich zwar noch mehr gewünscht, konnte aber mit einem aus seiner Sicht überzeugenden Ticket in die Preisverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband gehen: Der Ausschuss habe einen Zusatznutzen seines Arzneimittels für etwa 80 Prozent aller Patienten mit Akutem Koronarsyndrom (ACS) anerkannt, betonte das Unternehmen.

Das Verfahren für Brilique® ist ein Hinweis darauf, dass der GBA nicht zwangsläufig dem Institut folgt, sondern auch zu einer eigenen, positiveren Bewertung finden kann und sich den in der Anhörung vorgetragenen Argumenten nicht generell verschließt.

Umstrittene Bewertung für ein Orphan Drug

Dass er sich dem IQWiG entgegenstellt, erwarten vom GBA im Falle des Orphan Drug Pirfenidon (Esbriet®) nicht nur das Unternehmen InterMune, sondern auch die Pharmaverbände vfa und BPI. Die Mitte Dezember vorgelegte Bewertung des Arzneimittels für Patienten mit Lungenfibrose (IPF) ist bei ihnen auf blankes Unverständnis gestoßen.

Längst bevor, jedenfalls nach Angaben des Herstellers, der GKV-Umsatz mit dem Arzneimittel die 50-Millionen-Euro-Schwelle erreicht, hatte das Institut das Ausmaß des Zusatznutzens in die Kategorie "kein Zusatznutzen belegt" eingestuft.

Ein paradoxes Ergebnis, denn zumindest bis zum Erreichen der Umsatzschwelle gilt laut Gesetz der Zusatznutzen eines Arzneimittels gegen seltene Leiden als durch die Zulassung belegt. Dissens herrscht auch über die zweckmäßige Vergleichstherapie.

Diese besteht nach Feststellung des GBA in "best supportive care" (BSC), etwa Prednisolon bei Exazerbationen und die Gabe von Sauerstoff. InterMune hatte dagegen im Dossier dargelegt, eine zweckmäßige Vergleichstherapie lasse sich nicht identifizieren. Insbesondere müsse Prednisolon wegen fehlender Evidenz und negativer Guideline-Empfehlungen als Vergleichstherapie ausgeschlossen werden.

Vergleichstherapie trotz fehlender Alternativen?

Die EMA hatte zudem die Zulassung von Esbriet® auch damit begründet, dass wirksame Behandlungsalternativen fehlen.

Der vfa wirft dem IQWiG deshalb gleich zweifache Rechtsverletzung vor: einen Verstoß gegen die Bestimmung im AMNOG, nach der der Zusatznutzen von Orphans bereits durch das Zulassungsverfahren belegt ist und gegen die Vorschrift, dass die Bewertungen den Ergebnissen der Zulassungsbehörde über Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit eines Präparats nicht widersprechen dürfen.

Der BPI reklamierte, das IQWiG müsse Orphan Drugs regelkonform bewerten. Pirfenidon dürfe kein Präzedenzfall werden. BPI und vfa fordern vom GBA eine Korrektur der Bewertung und erinnern das BMG schon mal vorsorglich an seine Aufsichtspflicht.

Ein Blick auf die bisher vorgelegten Bewertungsberichte zeigt, dass das IQWiG das Ausmaß des Zusatznutzens nach Patientengruppen differenziert sehr unterschiedlich ausweist. Als Maximum wurde jeweils für bestimmte Patientengruppen ein "beträchtlicher Zusatznutzen" zuerkannt.

Außer dem Plättchenhemmer Brilique® konnten auch die beiden bisher bewerteten Onkologika (Prostatakrebs) bei bestimmten Patienten diese zweithöchste Bewertungsstufe erreichen: Zytiga® (Abirateronacetat) von Janssen und Jevtana® (Cabazitaxel) von Sanofi.

Aus welchen Gründen senkt das IQWiG den Daumen?

Die Hersteller der beiden bisher begutachteten HCV-Proteasehemmer Victrelis® (Boceprevir), MSD, und Incivo® (Telaprevir), Janssen, ringen unterdessen darum, dass das dauerhafte virologische Ansprechen (SVR) der mit den Arzneimitteln behandelten Patienten als Heilung anerkannt wird.

Das IQWiG sieht in dieser Wirkung lediglich ein Ersatzkennzeichen für das verminderte Auftreten von Leberkrebs. Die Korrelation entspreche zwar dem derzeitigen Stand des Wissens, es fehlten jedoch Studien, die diese Annahme absicherten, erklärte das IQWiG und fand bei den Hepatitis-Medikamenten daher lediglich einen Hinweis auf einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen.

Gilenya®, dem ersten MS-Arzneimittel auf dem AMNOG-Prüfstand, billigt das Institut nur einen geringen Zusatznutzen zu; die behandelten Patienten entwickelten weniger grippeähnliche Symptome als unter den Beta-Interferonen. Hersteller Novartis äußerte sich enttäuscht über die Bewertung und fordert angesichts der aus seiner Sicht "überzeugenden Studienlage" eine Korrektur durch den GBA.

Beim Antidiabetikum Trajenta® (Linagliptin) schwelt der Streit der Hersteller mit IQWiG und GBA um die zweckmäßige Vergleichstherapie weiter. Hier komme nur Sitagliptin infrage, sagen Boehringer Ingelheim und Lilly.

IQWiG und GBA halten je nach Therapie an Sulfonylharnstoff, Sulfonylharnstoff plus Metformin oder Metformin plus Humaninsulin fest. Die Abweichung von der vom GBA bestimmten Vergleichstherapie sei durchaus möglich, im konkreten Fall aber im Dossier nicht ausreichend begründet.

Der Zusatznutzen sei daher "nicht belegt", entschied das IQWiG. Trajenta® ist eines von zwei Arzneimitteln, auf deren Vermarktung in Deutschland die Hersteller im Dissens um die Nutzenbewertung derzeit verzichten. Das andere ist der Blutdrucksenker Rasilamlo® von Novartis, dessen Nutzenbewertung am 15. Februar veröffentlicht wird.

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