Hintergrund

Senioren oft falsch behandelt - vermeidbar, oder?

Viele Senioren erhalten ungeeignete Medikamente. Die Priscus-Liste schlägt Alternativen vor. Doch ganz so einfach ist die Lösung nicht, sagen Experten.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Gefährliche Pille: Senioren nehmen häufig mehrere Arzneien, da sind schädliche Wechselwirkungen vorprogrammiert.

Gefährliche Pille: Senioren nehmen häufig mehrere Arzneien, da sind schädliche Wechselwirkungen vorprogrammiert.

© Yanik Chauvin / fotolia.com

Alte Menschen reagieren auf Arzneimittel anders als jüngere. Welche Wirkstoffe bei Senioren potenziell Probleme bereiten, ist in der 2010 publizierten Priscus-Liste aufgeführt (www.priscus.net).

83 Wirkstoffe stehen auf dieser viel diskutierten Liste. Bei Anwendung dieser Wirkstoffe können bei alten Patienten Probleme auftreten - müssen aber nicht.

Das ist der Stand der Diskussion.

Doch werden diese Erkenntnisse in der Arzneitherapie von Senioren genügend berücksichtigt? Werden die Wirkstoffe vermieden?

Diesen Fragen sind Ute Amann und ihre Kollegen vom Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin nachgegangen. Sie haben dazu Abrechnungsdaten von drei gesetzlichen Krankenkassen analysiert.

Frauen stärker betroffen als Männer

Demnach erhielten im Jahre 2007, also drei Jahre vor Veröffentlichung der Priscus-Liste, ein Viertel der mehr als 800 000 analysierten Versicherten im Alter über 65 Jahren mindestens eine Verordnung einer potenziell inadäquaten Medikation (PIM).

Frauen waren deutlich öfter als Männer betroffen. Am häufigsten handelte es sich um Psycholeptika.

Knapp neun Prozent der Patienten hatte Wirkstoffe der Priscus-Liste vier Mal oder öfter verordnet bekommen (Dt Ärztebl 2012, 109: 69).

Die Daten überraschen nicht. Ein für die AOK Ende 2011 erstellter Report der Wuppertaler Pharmakologin Professor Petra Thürmann, einer der Schöpferinnen der Priscus-Liste, und ihrer Kollegen hatte Ähnliches ergeben.

Verordnen Ärzte falsch?

Man könnte das Ergebnis als pauschalen Vorwurf an Ärzte verstehen. Und tatsächlich titelte die "Süddeutsche Zeitung" prompt: "Alt, krank und falsch behandelt - Viele Senioren bekommen ungeeignete Medikamente, obwohl eindeutige Empfehlungen existieren".

Fahrlässige Ärzte oder fahrlässiger Journalismus?

Dabei lässt sich mit den Daten nicht abschätzen, wie viele Fehlverordnungen tatsächlich stattgefunden haben. Die Priscus-Liste ist nämlich keine Verbotsliste.

Es handelt sich dabei nur um relative Kontraindikationen, wie Amann und ihre Kollegen selbst betonen. Zudem liegen keine Informationen zu individuell verschriebenen Tagesdosierungen vor. Was also soll man mit den Daten überhaupt anfangen?

Es gehe um eine Sensibilisierung der Ärzte für potenziell problematische Wirkstoffe, so Thürmann zur "Ärzte Zeitung".

Sie möchte die Liste eher als Fortbildungsmaterial verstanden wissen.

Geriater wie Professor Ingo Füsgen von der Universität Witten/Herdecke sehen solche Listen kritisch. Sie taugten nicht für die Alltagsroutine, meint er.

Eine evidenzbasierte Geriatrie sei nicht machbar. "Es gibt Menschen, die mit 80 wie 50-Jährige sind und wir haben 60-Jährige, die biologisch eher 80-Jährigen entsprechen", sagt Füsgen.

Nicht nur biologisch, auch pharmazeutisch gibt es eine breite Streuung von Bedingungen, die die Arzneimitteltherapie bei hochbetagten Menschen funktionieren lassen oder nicht.

Regelmäßig Medikamente prüfen und aussortieren

Gefragt ist nach Ansicht des Geriaters in jedem Einzelfall die effiziente Kommunikation zwischen Patienten, Angehörigen und allen beteiligten Therapeuten sowie: Zeit zum Nachdenken.

Das sieht Thürmann letztlich genauso. Sie erhält die Hälfte aller Anfragen zur Priscus-Liste oder zur Medikation von Angehörigen der betroffenen Patienten.

Sie müssten daher unbedingt einbezogen werden.

Vor allem aber brauche es Strukturen, die es erlaubten, dass der Hausarzt einmal jährlich bei seinen Senioren einen geriatrischen Check-up vornimmt, der auch ein Entrümpeln der Medikation beinhalte.

Problematisch sei vor allem die Schnittstelle zwischen klinischer und ambulanter Versorgung. Es brauche einen vermittelnden Schnittstellen-Manager, dies könne zum Beispiel der Apotheker sein, so Thürmann.

Und weiter: "Ich würde nicht sagen, dass die verordneten PIM einen großen Beitrag zu schweren unerwünschten Arzneimittelwirkungen leisten. Da gibt es andere Medikamente, die häufiger verordnet werden und häufiger Probleme machen und die nichts mit Priscus-Liste zu tun haben, zum Beispiel Diuretika."

Was nicht heißt, dass man auf sie verzichten könnte.

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