AMNOG und Diabetologie

Eine unerfreuliche Bilanz

Die mehr als 20 Nutzenbewertungen von innovativen Diabetes-Präparaten zeigen ein ernüchterndes Bild, wie medizinischer Fortschritt in Deutschland bewertet wird: Nur bei einem Antidiabetikum stellte der Bundesausschuss einen beträchtlichen Zusatznutzen fest – in fünf Fällen nahm der jeweilige Hersteller sein Arzneimittel aus dem Vertrieb oder brachte es erst gar nicht auf den Markt.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Nur bei einem Antidiabetikum stellte der Bundesausschuss einen beträchtlichen Zusatznutzen fest.

Nur bei einem Antidiabetikum stellte der Bundesausschuss einen beträchtlichen Zusatznutzen fest.

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Die Notwendigkeit der frühen Nutzenbewertung und die darauf basierenden Verhandlungen über einen Erstattungsbetrag, ersatzweise die Festlegung des Erstattungsbetrags durch eine Schiedsstelle, ist in Deutschland inzwischen grundsätzlich anerkannt. Am Verfahren und an den Modalitäten entzündet sich allerdings teils erhebliche Kritik, die auch durch das gegenwärtig in den Abschlussberatungen des Bundestages befindliche Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz nicht grundlegend entkräftet wird. Für die Nutzenbewertung der Antidiabetika haben die Professoren Baptist Gallwitz, Monika Kellerer, Erhard Siegel und Dirk Müller-Wieland in dem jüngst erschienen "Deutschen Gesundheitsbericht – Diabetes 2017" eine Bilanz gezogen.

Nur vereinzelt Zusatznutzen

Bei allen Verfahren hat die Deutsche Diabetes-Gesellschaft die Gelegenheit genutzt, teils zusammen mit anderen Fachgesellschaften durch Stellungnahmen und Beteiligung bei den Anhörungen ihre Expertise einzubringen. Das war allerdings nicht immer erfolgreich.

Für zwei DPP-4-Inhibitoren und zwei langwirkende GLP-1-Rezeptoragonisten wurde bislang ein geringer Zusatznutzen vom GBA in bestimmten Teilindikationen und Kombinationstherapien anerkannt.

Für die beiden DPP-4-Inhibitoren hatte der GBA seine Entscheidung zeitlich begrenzt und im Dezember 2016 erneut entschieden. Danach wurde für Saxagliptin in keiner Indikation ein Zusatznutzen gesehen. Für Sitagliptin anerkannte der Bundesausschuss einen Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzen in einer von fünf Indikationen – damit wurden die vorangegangenen Beschlüsse trotz Vorlage neuer Studien bestätigt.

Bemängelt wird, dass das IQWiG in den Bewertungen die kardiovaskulären Sicherheitsstudien Savor-TIMI53 für Saxagliptin und TECOS für Sitagliptin nicht berücksichtigt hat.

Für alle Präparate der neuen Substanzklasse der SGLT-2-Hemmer wurden in der ersten Nutzenbewertung kein Zusatznutzen gesehen.

Allerdings durchlief der SGLT-2-Hemmer Empagliflozin nach Veröffentlichung der EMPA-REG-Outcome-Studie das Bewertungsverfahren ein zweites Mal, nachdem sich die Überlegenheit im Vergleich zur Standardtherapie in Bezug auf makro- und mikrovaskuläre Endpunkte gezeigt hatte. In seinem Gutachten erkannte das IQWIG gleichwohl keinen Zusatznutzen. Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft sieht die Ursache darin, dass die neuen Studienergebnisse primär aus formalen Gründen nicht in die Empfehlung an den Bundesausschuss einbezogen worden waren.

Der Bundesausschuss entschied dagegen anders: In der Zweifachkombination mit Metformin sah er bei Patienten ohne manifeste kardiovaskuläre Erkrankung im Vergleich zu Metformin und Sulfonylharnstoff einen Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzen. Für das Patientenkollektiv mit manifestem kardiovaskulären Risiko attestierte der Bundesausschuss einen beträchtlichen Zusatznutzen. Dabei hat der GBA – anders als das IQWiG – die Ergebnisse der EMPA-REG-Outcome-Studie "sehr differenziert gewürdigt und genau das Patientenkollektiv, das in der Studie von der Behandlung profitiert hatte, den beträchtlichen Zusatznutzen eingeräumt".

Sechs Innovationen vom Markt

Dies sei das erste Mal im AMNOG-Verfahren gewesen, dass ein Antidiabetikum einen beträchtlichen Zusatznutzen erhalten hat. Die Entscheidung stimme mit den Leitlinien der European Society of Cardiology überein, wonach ebenfalls Empagliflozin als Therapieoption besonders für kardiovaskulär vorerkrankte Patienten mit Diabetes und Herzinsuffizienz hervorgehoben werde.

Von dieser Ausnahme abgesehen ziehen die Diabetologen allerdings ein ernüchterndes Fazit nach gut fünf Jahren Erfahrungen mit der frühen Nutzenbewertung. Sechs neue Diabetes-Medikamente sind nach Durchlaufen des AMNOG-Prozesses in Deutschland nicht erhältlich.

Bei den DPP-4-Inhibitoren wurde Linagliptin als erstes Antidiabetikum, das die frühe Nutzenbewertung durchlaufen hat, gar nicht erst eingeführt. Der Hersteller votierte für ein Opt-out, weil er für die Preisverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband angesichts des Maßstabs eines Generikapreises keine vernünftige wirtschaftliche Prognose für seine Innovation sah.

Bei Vildagliptin, für das der GBA ebenfalls keinen Zusatznutzen sah, kam es bei den Preisverhandlungen zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband zu keiner Einigung, sodass der Vertrieb in Deutschland eingestellt wurde.

Das gleiche ereignete sich bei Insulin degludec und seiner Kombination mit Liraglutid sowie beim GLP-1-Rezeptoragonisten Lixisenatid. Auch der Hersteller des SGLT-2-Hemmers Canagliflozin entschied sich nach negativer Nutzenbewertung dafür, seine Präparate – betroffen war auch die Kombination mit Metformin – vom deutschen Markt zu nehmen.

Kritik der Fachgesellschaften

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen hat die Deutsche Diabetes-Gesellschaft, aber auch die Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften zum Ablauf des Verfahrens, zur Festlegung der zweckmäßigen Vergleichstherapie sowie zum Umgang und zur Bewertung von Studien Kritikpunkte in einem Positionspapier zusammengefasst. Im einzelnen betrifft dies:

Festlegung der Vergleichstherapie: Zusätzlich sollten hier unabhängige klinische Experten gehört werden, um ihr Fachwissen zur Beurteilung der vorliegenden Evidenz beizusteuern. Die Benennung sollte in Abstimmung mit der AWMF erfolgen – Interessenkonflikte müssten berücksichtigt werden.

Berücksichtigung evidenzbasierter Leitlinien: Sie sollten integraler Bestandteil des Bewertungsprozesses durch den Bundesausschuss sein. Sie gehörten ins Dossier des Herstellers und auch in das Gutachten des IQWiG. Wenn der GBA zu Empfehlungen komme, die den Leitlinien widersprechen, müsse dies für den praktizierenden Arzt nachvollziehbar sein. Der Widerspruch müsse wissenschaftlich plausibel dargelegt werden.

Definition von Endpunkten: Dies müsse präzis erfolgen, ihre Hierarchisierung müsse mit der Definition der zweckmäßigen Vergleichstherapie unter Einbeziehung medizinischer Experten und betroffener Patientenvertreter erfolgen. Wenn die Zeitachse von Studien eine abschließende Bewertung relevanter Endpunkte nicht zulasse, dann müsse häufiger vom Instrument der Befristung Gebrauch gemacht werden. Für Diabetes bedeute das auch, dass in der frühen Nutzenbewertung klinische belegte relevante Surrogat-Parameter wie etwa Glykämieparameter als Endpunkte anerkannt werden.

Bei der Subgruppenbildung

Eine gesundheitsökonomische Evaluation neuer Therapien

Europäische Harmonisierung:

Schwierige Preisfindung

Vor dem Hintergrund der inzwischen rund 20 Verfahren und den dabei angeschlossenen Preisverhandlungen zwischen den Herstellern und dem GKV-Spitzenverband wird dessen Rolle – nicht nur von der Deutschen Diabetes-Gesellschaft – kritisch beurteilt, nicht zuletzt auch deshalb, weil er in Einzelfällen auch gegen die Interessen einzelner Krankenkassen gehandelt habe. Die Alternative – Einzelverhandlungen der Hersteller mit den über hundert Einzelkassen – wird jedoch nicht für realisierbar gehalten.

Gleichwohl wird positiv anerkannt, dass für jeweils zwei DPP-4-Inhibitoren, SGLT-2-Hemmer und GLP-1-Rezeptoragonisten eine Einigung auf einen Erstattungsbetrag gelungen ist. Beachtenswert sei auch, dass es bei den SGLT-2-Inhibitoren zu Preisvereinbarungen oberhalb des Generikapreises der zweckmäßigen Vergleichstherapien gekommen sei, obwohl der GBA keinen Zusatznutzen anerkannt hatte. Für Medikamente mit geringem Zusatznutzen seien höhere Preise erreicht worden.

Kritisch wird angemerkt, dass dies in der Praxis dazu führe, dass nicht leitliniengerecht behandelt werde, sondern der Preis eines Medikamentes den Ausschlag für die Verordnungsentscheidung gebe.

Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft würde es in diesem Zusammenhang für wünschenswert halten, wenn am Ende der Verhandlungen über den Erstattungsbetrag eine fachliche Plausibilitätskontrolle durch Externe und durch Fachgesellschaften stattfinden würden, um evidenzbasierte, leitlinienorientierte Medizin und Preisfindung in Einklang zu bringen. Das gelte umso mehr, als die Schiedsstelle im Fall der Nichteinigung zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband, fachfremd sei.

Aufwand bei Umstellungen

In einigen Fällen wurden wegen nicht möglicher Einigung auf einen Erstattungsbetrag Diabetes-Präparate vom Markt genommen. Besonders bei jenen Arzneimitteln, mit denen bereits viele Tausend Patienten behandelt worden waren, seien hiermit verbundene Therapieumstellungen eine Belastung für die Patienten und behandelnden Ärzte gewesen. Die dadurch verursachten Folgekosten würden von den Kostenträgern eher unterschätzt. Zusätzlicher Aufwand falle durch gehäufte Arztbesuche, zusätzliche Schulungstermine, Komplikationen wie Hypoglykämien und dadurch bedingte Arbeitsausfallzeiten an.

Am Ende plädieren die Diabetologen dafür, im Rahmen des AMNOG-Prozesses auch die Bedeutung des "Return on Invest" für die pharmazeutischen Unternehmen stärker zu berücksichtigen. Dies könnte auch positive Wirkungen auf den Forschungs- und Wissenschaftsstandort Deutschland haben. Dazu gehöre auch, dass Erstattungsbeträge nicht wie bisher üblich in der Lauer-Taxe veröffentlicht, sondern in einer vertraulichen Liste fixiert würden. Praktiziert wird dies bei den rabattierten Insulinanaloga. Dies war auch ein Ergebnis des Pharmadialogs und ist insofern Bestandteil des Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetzes; Erstattungsbeträge sollen nur noch wenigen Institutionen bekannt sein.

Kritisch sehen die Diabetologen die mit der AMNOG-Reform intendierte regionale Umsetzung der Verordnungssteuerung auf der Basis von Vereinbarungen zwischen den KVen und den Landesverbänden der Kassen. Damit verbunden sei das Risiko von Einschränkungen der ärztlichen Therapiefreiheit und ein regional unterschiedliches Versorgungsniveau.

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