Biogen-Interview

Fokus auf Vielfalt in wenigen Indikationen

Bei der spinalen Muskelatrophie sei Biogen ein Therapiedurchbruch gelungen, so Deutschlandchef Dr. Steffen Wagner. In anderen Indikationen setzt das Unternehmen ebenfalls auf mehrgleisige Forschungsansätze. Die Gründe erklärt Wagner im Interview mit der "Ärzte Zeitung".

Wolfgang van den BerghVon Wolfgang van den Bergh Veröffentlicht:
Dr. Steffen Wagner (rechts) im Gespräch mit Wolfgang van den Bergh.

Dr. Steffen Wagner (rechts) im Gespräch mit Wolfgang van den Bergh.

© Thomas Dreier

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Wagner, vom Arzt zum Unternehmenschef: Hilft Ihnen Ihre medizinische Sozialisation dabei, sich besser in die Gefühlswelt von Ärzten hineinzuversetzen?

Dr. Steffen Wagner: Auf jeden Fall. Ich denke schon, dass ich mich sehr gut in die Arzt- und Patientensituation hineinversetzen kann. Die Vorstellung, einen Patienten vor sich zu haben, für den Sie keine Therapieoption haben, ist für jeden Arzt sehr schwierig.

 

Und da kommen Biotech- und andere forschende Pharmaunternehmen ins Spiel, die möglicherweise für solche Fälle eine Lösung anbieten können. Wir haben immer noch viel zu viele Erkrankungen, bei denen die Therapieoptionen sehr beschränkt sind. Denken Sie an die 8000 seltenen Erkrankungen.

Haben Sie ein Gespür dafür entwickelt, welche Innovationen ein großes Potenzial haben?

SW: Mir ist der enge Austausch mit den Forschern und Ärzten an den Universitäten und im Unternehmen wichtig. Dadurch bekommt man durchaus ein Gespür dafür, was zählt, was funktioniert und was nicht funktioniert. Ein medizinischer Hintergrund ist dafür schon hilfreich.

Dr. Steffen Wagner

» Aktuelle Position: Geschäftsführer der deutschen Niederlassung von Biogen in Ismaning

» Werdegang: Studium der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München; praktisches Jahr in Sydney, Johannesburg und New Haven (USA).

» Karriere: Vor seinem Wechsel zu Biogen war er Area Vice President bei Alcon, der Augenheilkunde-Sparte des Novartis-Konzerns. Nach seiner Tätigkeit als Arzt begann er seine berufliche Laufbahn als Unternehmensberater bei Bain und McKinsey mit Fokus auf die pharmazeutische Industrie.

Biogen ist eines der führenden Biotech-Unternehmen weltweit – dabei liegt der Fokus auf der Erforschung neuer Therapieoptionen im Bereich neuroimmunologischer, neurodegenerativer und seltener genetischer Erkrankungen. Wie definieren Sie Erfolg?

SW: Erfolg bedeutet für mich Pionierarbeit: Medikamente für Bereiche mit hohem medizinischem Bedarf zu entwickeln, für die es aktuell keine oder nur geringe Behandlungsmöglichkeiten gibt – etwa bei Alzheimer oder der spinalen Muskelatrophie. Derzeit erleben wir eine extrem spannende Phase. Wir verstehen die Genetik und die Ursachen vieler Erkrankungen besser und erschließen neue Potenziale. Und daran als forschendes Biotech-Unternehmen mitzuwirken ist eine große Herausforderung und unser Antrieb.

Das Terrain ist hoch komplex – vermeintliche Erfolge in der Entwicklung können auch noch später scheitern. Wie gehen Sie und Ihre Mitarbeiter mit Misserfolg um?

SW: Sie brauchen langen Atem und Durchhaltevermögen. Von der Entwicklung bis zum fertigen Produkt vergehen oft zehn Jahre. Da brauchen Sie Mitarbeiter, die am Ball bleiben und sich durch Rückschläge nicht entmutigen lassen. Sie brauchen Expertise, und die haben wir vor allem im Bereich der Neurologie.

Um einzelne Fehlschläge zu kompensieren, müssen sie sich fokussieren, dürfen aber nicht nur auf ein Pferd setzen. Sie müssen eine ganze Reihe von Therapieansätzen prüfen – das tun wir etwa in der Alzheimer-Forschung. Übersetzt bedeutet das: Wir setzen auf unser spezialisiertes Knowhow und unsere langjährige Erfahrung, um neue herausfordernde neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Alzheimer, Spinale Muskelatrophie (SMA), ALS, Parkinson u. a. zu bekämpfen.

Wird aus Ihrer Sicht das Risiko zu scheitern von der Politik und von der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen?

SW: Ich denke schon. Das hängt auch damit zusammen, dass das Thema hochkomplex ist – allein schon durch den zeitlichen Vorlauf. Oft wird nur die Endstrecke und damit der Erfolg gesehen. Die harte Arbeit und die Milliarden-Investitionen im Vorfeld werden dabei wenig bis gar nicht berücksichtigt.

Ich muss allerdings auch sagen, dass wir es als Industrie nicht immer geschafft haben, die komplizierten Zusammenhänge einfach und ausreichend zu kommunizieren. Völlig richtig: Die Wahrnehmung ist nicht da, wo sie sein sollte.

Welche Rolle spielt hier die frühe Nutzenbewertung nach AMNOG?

SW: Eine sehr wichtige. Die Zusatz-Nutzenbewertung ist eine Kernkomponente des Systems. Generell unterstütze ich die Idee einer Nutzenbewertung. Die aktuelle Umsetzung dieser Idee funktioniert allerdings nicht optimal.

Das zeigt sich daran, dass drei von vier Arzneimitteln, welche keinen Zusatznutzen zugesprochen bekommen haben, aus formalen Gründen scheitern. In nicht wenigen Fällen kommt es auch zu unterschiedlichen Einschätzungen von IQWiG und Gemeinsamem Bundesausschuss.

Hier ist eine riesige Lücke zwischen der Wahrnehmung von Ärzten, Patienten und pharmazeutischen Unternehmern auf der einen Seite und dem System auf der anderen Seite. Diese Lücke muss geschlossen werden.

Werden sich denn die Prozesse nach der AMNOG-Reform verbessern?

SW: Durch die jüngsten Veränderungen hat sich an den Kernproblemen nichts geändert. Es gibt Beispiele, bei denen die Fachgesellschaften ein Produkt zur Erstlinientherapie empfohlen haben, der GBA jedoch aus formellen Gründen keinen Zusatznutzen festgestellt hat.

Hier sind medizinische Meinung und Leitlinien nicht konsistent mit der Nutzenbewertung. Das ist nicht gut, weil es unter Umständen Ärzte und Patienten irritiert. Und die großen Herausforderungen werden noch kommen, wenn es etwa, wie bei der Alzheimer-Forschung, darum geht, Biomarker bei der Nutzenbewertung zu berücksichtigen.

Das ist ein wichtiges, aber sehr komplexes Thema.

Wie ordnen Sie die aktuelle Diskussion um den Beschluss des LSG Berlin / Brandenburg ein, wonach der Erstattungsbetrag für Arzneimittel kein Mischpreis sein darf und im Fall von Subpopulationen ohne Zusatznutzen nicht die Wirtschaftlichkeit garantiert werden kann?

SW: Herr Professor Hecken hat den Beschluss als brandgefährlich bezeichnet. Hier stimme ich ihm ausdrücklich zu. Sollte dies so umgesetzt werden, dann befürchte ich, dass es zu umfangreichen Verordnungsausschlüssen kommt. Das ist nicht im Sinne der Patienten.

Sie fordern also, am Mischpreissystem festzuhalten?

SW: Ja, ich halte das Mischpreissystem für sinnvoll. Es bietet dem Arzt Sicherheit in der Verordnungspraxis, weil er individuell entscheiden kann. Patienten, die möglicherweise ausgeschlossen wären, erhalten so Zugang zu Innovationen.

Wenn Sie so wollen: Die Mischpreisbildung dämpft die Unzulänglichkeiten des AMNOG-Systems. Was wir brauchen, ist eine klare gesetzliche Regelung.

Zurück zum Thema Innovationen: Vor wenigen Tagen gab's die europäische Zulassung für ein Medikament zur Therapie der spinalen Muskelatrophie. Die Rede ist von einem Therapie-Durchbruch. . .

SW: Das kann ich bestätigen. Die genetischen Ursachen der spinalen Muskelatrophie sind seit über 20 Jahren bekannt. Jetzt können wir erstmals eine Therapie anbieten. Ab 3. Juli wird Nusinrsen (Spinraza®) bei der spinalen Muskelatrophie, übrigens der häufigsten genetisch bedingten Todesursache bei Säuglingen und Kleinkindern, in Deutschland verfügbar sein.

Spinraza® ist nicht nur für Babies und Kleinkinder, sondern auch für Teenager und erwachsene Patienten zugelassen worden. Das sind wichtige Neuigkeiten für alle betroffenen Patienten und deren Familien.

Von wie vielen Patienten reden wir?

SW: Die Inzidenz liegt bei eins von 10 000 Neugeborenen. In der schwersten Form, der infantilen SMA, reden wir von etwa 100 Patienten. Ansonsten gibt es über die Zahl betroffener junger Menschen und Erwachsener unterschiedliche Einschätzungen.

Ist es korrekt, dass die Studie vorzeitig abgebrochen worden ist?

SW: Wir haben ein umfangreiches Studienprogramm mit einer großen Zahl von Patienten aufgelegt. In puncto Überleben und motorischer Funktionsverbesserungen waren die Daten hoch signifikant positiv.

Schließlich war der Unterschied so eindeutig, dass die Studie frühzeitig beendet wurde, um so auch den Placebo-Patienten die Chance auf eine Therapie zu bieten. Zudem haben wir ein Härtefall-Programm aufgelegt, in dem in Deutschland über 90 Patientinnen und Patienten mit der schwersten Form der Erkrankung noch vor der Zulassung kostenfrei behandelt werden konnten.

Welchen Stellenwert hat eine solche Innovation etwa im Vergleich zu Entwicklungen bei der MS?

SW: Die Multiple Sklerose ist und bleibt für uns ein Kernfokus. In den vergangenen zwanzig Jahren haben wir allein mit sechs verschiedenen Therapieoptionen ein breites Portfolio aufgebaut und die Möglichkeit, MS individuell zu behandeln, entscheidend erweitert.

Und jetzt gehen wir mit Spinraza® in den nächsten Bereich, den wir fundamental verändern wollen. Nicht nur mit der aktuellen Therapieoption, sondern wir forschen auch an einer Gentherapie.

Mein größter Wunsch wäre es, dass wir das, was wir heute über die Behandlungsmöglichkeiten und den Fortschritt in der MS-Therapie sagen, später einmal auch über die spinale Muskelatrophie, über Parkinson, über ALS und über Alzheimer sagen werden.

Stichwort Alzheimer: Hier sind die Meldungen zur Entwicklung eines Wirkstoffs bisher wenig optimistisch – wie sieht das bei Biogen aus?

SW: Wie vorhin gesagt, setzen wir nicht nur auf ein Pferd. Wir haben mit Hochdruck ein breites Alzheimer-Portfolio aufgebaut. Es umfasst sechs Kandidaten, die verschiedene Mechanismen bedienen.

Die sechs Wirkstoffe befinden sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien – zwei in Phase 3, zwei in Phase 2, eins in Phase 1 und eins noch in einer vorklinischen Phase. Für unsere Phase-3-Studie mit Aducanumab haben wir bereits mehr als die Hälfte der Patienten weltweit eingeschlossen.

Vor einem halben Jahr haben Sie das Ruder bei Biogen in Ismaning übernommen – seit 20 Jahren gibt es Biogen in Deutschland. Welche Bilanz können Sie heute ziehen?

SW: Lassen Sie es mich an den Therapieoptionen für MS deutlich machen. Ich bin stolz darauf, dass Biogen dazu beigetragen hat, MS zu einer gut behandelbaren Erkrankung zu machen. Damit hat sich auch die Lebensqualität der Patienten positiv verändert. Sicherlich müssen wir hier weiter am Ball bleiben.

Parallel dazu konzentrieren wir uns auf neue Bereiche in der Neurologie, wie zum Beispiel die spinale Muskelatrophie und die Alzheimer-Forschung – mit Milliarden-Investitionen in Forschung und Produktion von innovativen Therapien.

Das Unternehmen Biogen

 Branche: Weltweit führendes Biotechnologie-Unternehmen mit Sitz in Cambridge, USA. Konzentration auf die Bereiche Multiple Sklerose, neurodegenerativer Erkrankungen sowie seltene genetische Krankheiten. Biogen verfügt über das umfangreichste Portfolio zur Bekämpfung der Multiplen Sklerose. Weitere Produkte gegen MS sind in Entwicklung. Im Bereich seltene Erkrankung hat Biogen ein erstes Medikament gegen spinale Muskelatrophie entwickelt. Im Bereich Alzheimer hat Biogen mit sechs Wirkstoffen eine der größten Pipelines. Außerdem bringt Biogen Biosimilars moderner Biopharmazeutika auf den Markt.

 Umsatz 2016: weltweit 11,4 Mrd. US-Dollar

 F+E Aufwendungen 2016: 2 Mrd. US-Dollar

 Mitarbeiter: 350 in Deutschland, weltweit 7000

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