IQWiG-Leiter Jürgen Windeler

"Das ist keine Studienkultur, das ist Abarbeiten von Industrieaufträgen"

Öffentlich finanzierte klinische Studien sind in Deutschland Mangelware. Um Fragen zu klären, die Ärzten und Klinikern wirklich unter den Nägeln brennen, befürwortet der IQWiG-Leiter Professor Jürgen Windeler einen Studienfonds. In den sollen Staat, GKV und auch die Industrie einzahlen.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Professor Dr. med. Jürgen Windeler: "Wir bringen zu wenige klinische Studien auf den Weg, die für die Versorgung relevant sind." Windeler ist seit 1. September 2010 Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).

Professor Dr. med. Jürgen Windeler: "Wir bringen zu wenige klinische Studien auf den Weg, die für die Versorgung relevant sind." Windeler ist seit 1. September 2010 Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).

© Robert Schlesinger dpa/lbn

Ärzte Zeitung: Sie beklagen eine mangelhafte Studienkultur in Deutschland. Was missfällt Ihnen?

Professor Jürgen Windeler: Wir bringen zu wenige klinische Studien auf den Weg, die für die Versorgung relevant sind.

Können Sie Beispiele nennen?

Windeler: Es geht um Studien, die alltägliche Entscheidungssituationen abbilden. Zum Beispiel wird bei größeren Gelenkoperationen heparinisiert. Wie ist es jedoch bei kleineren Eingriffen am Bein? Brauchen wir hier auch Heparine? Die Holländer haben zwei randomisiert-kontrollierte Studien gemacht, mit dem simplen Endpunkt: Bekommen die Patienten eine Thrombose oder nicht? Das Ergebnis: Die Heparinisierung hat nach kleineren Eingriffen keine Vorteile, wir könnten darauf verzichten.

Vernünftige Studien zu solchen Fragen, randomisiert und groß genug, sind in Deutschland eher Mangelware.

Woran liegt das?

Windeler: Gäbe es solche Studien, wenn wir entsprechende Strukturen und genug Geld hätten? Ich denke Ja. Aber das Problem geht noch tiefer: Möglicherweise interessieren wir uns nicht genug für Fragen, die Einfluss auf die Versorgung nehmen könnten. Diese Kultur ist bei uns nicht sehr ausgeprägt. Und deswegen gibt es auch keine entsprechenden Strukturen, kein Geld und keine Studien.

Wir haben sehr viele Zentren, die sich an Zulassungsstudien beteiligen. Bei den meisten Medikamenten ist Deutschland gut mit dabei.

Windeler: Genau, bei Medikamentenstudien, die von Firmen zur Zulassung gemacht werden, da ist Deutschland mit dabei. Hier geht es aber nicht um Fragen der üblichen Versorgung, die Ärzten und Klinikern unter den Nägeln brennen. Vielmehr kommt eine Firma auf mich zu, will etwas von mir, ich soll mich beteiligen, sie bezahlt dafür, also mach ich das. Das ist keine Studienkultur. Das ist Abarbeiten von Industrieaufträgen.

Weshalb sind solche Studien für die Kliniken attraktiver?

Windeler: Es ist einfacher, als selbst einen Forschungsantrag zu stellen und sich um die Finanzierung zu kümmern – und das noch mit eher geringer Aussicht auf Erfolg. Auch Zulassungsstudien sind kein leicht verdientes Geld, aber ich muss nur einen Vertrag unterschreiben und die Patienten einbringen. Die Firma kümmert sich um Versicherungsfragen und die ganze Logistik.

Jedem, der in Deutschland eine eigene Studie aufsetzen will, ist klar, dass er sich um solche Dinge selbst kümmern muss. Das ist für viele ein großer Aufwand und oft gar nicht zu leisten. Ich habe daher großen Respekt vor den Wissenschaftlern, die das trotzdem versuchen. Wenn wir jedoch wissen, dass es wichtige Fragen zu beantworten gibt, die sich mit vertretbarem Aufwand auch beantworten lassen, dürfen wir uns nicht mit einer Struktur zufriedengeben, bei der dies vom Engagement und der Begeisterung einzelner Menschen abhängt. Das darf nicht sein.

Es gibt also keine geeignete Struktur für die öffentlich finanzierte klinische Forschung?

Windeler: Wenn Ärzte eine gute Idee oder eine wichtige Frage haben, gibt es keine Struktur, an die sie sich wenden können und die dann sagt, wir kümmern uns darum in einer effizienten Weise. Sie müssen immer wieder neu herausfinden, wen sie fragen, wen sie einbinden können. Sie müssen sich dieses Know-how selbst beschaffen und laufen dabei immer wieder in Sackgassen. Das kostet unglaublich viel Zeit und Energie.

Wie sieht das in anderen Ländern aus? Welche Strukturen gibt es da?

Windeler: Die USA haben das National Institute of Health (NIH) mit viel Geld, die Briten ein Programm zum Health Technology Assessment (HTA) für Studien mit Versorgungsbezug. In Dänemark hat der Gesundheitsminister gesagt, klinische Forschung ist uns wichtig, deshalb kümmern wir uns darum. Dort sind Studienpatienten grundsätzlich versichert, da müssen sich die Forscher nicht drum kümmern. In Deutschland fördern die DFG und das BMBF zwar auch klinische Projekte, die haben aber oft eine andere Ausrichtung, zudem sind die Mittel dafür vergleichsweise bescheiden.

Entscheidend ist ein klares politisches Signal, dass uns die klinische Forschung wichtig ist – weil wir wissen wollen, wie wir unsere Patienten besser versorgen können. Dann kommen auch Strukturen und Geld.

Woanders klappt es auch nicht immer. Vor kurzem wurde eine belgisch-niederländische Studie mit SSRI bei progredienter MS vorgestellt. Die Kurven zwischen SSRI und Placebo gingen nach einiger Zeit zugunsten des SSRI auseinander, mit 150 Patienten war das Resultat nicht signifikant. Anders bei einem neuen Wirkstoff in einer pharmafinanzierten Studie mit 1700 Patienten: gleiche Indikation, ähnliche Kurven, aber hochsignifikante Resultate. Der neue Wirkstoff wird vielleicht 20.000 Euro im Jahr kosten, der SSRI kostet fast nichts. Wieso schafft es die öffentlich finanzierte Forschung nicht, bei solchen Fragen eine vernünftige Studie hinzubekommen?

Windeler: In anderen Ländern ist natürlich auch nicht immer alles besser. Studien, die von vornherein zu klein sind, sollten nicht gemacht werden. Das ist Geldverschwendung und ethisch fragwürdig. Insgesamt sind öffentlich finanzierte Studien oft kleiner und methodisch schwächer als solche im Pharmabereich. Das trifft aber nur für die Zulassungsstudien zu.

Bewertet man Studien mit bereits zugelassenen Arzneien, dann macht die Industrie außer Anwendungsbeobachtungen nicht mehr viel. Das zeigt uns: Studien werden nur gemacht, wenn es Druck und Anreize gibt. Um die Fragen, die uns interessieren, ebenfalls zu beantworten, brauchen wir Strukturen und primär den Willen, das, was die Industrie uns vorsetzt, durch relevante Erkenntnisse zu ergänzen.

Ist nicht auch das Gießkannenprinzip der Forschungsförderung ein Problem? Hier ein paar Euro, dort ein paar, und letztlich hat kein Projekt die Größe, um vernünftige Resultate zu liefern?

Windeler: Förderer wie das BMBF und die DFG sind dazu angehalten, Studien zu unterstützen, die methodisch gut und aussagekräftig sind. Dazu gehört auch eine entsprechende Größe. Wird nun die Fördersumme gekürzt, mag es schon sein, dass eher an der Fallzahl als an der technischen Ausstattung gespart wird. Es gibt jedoch noch nicht einmal eine strukturierte Übersicht, was da gefördert wird.

Sie setzen auf einen Studienfonds, um solche Probleme zu lösen. Wie stellen Sie sich den vor?

Windeler: Wenn man sieht, wie für den Innovationsfonds über Nacht eine Milliarde aus dem Hut gezaubert wird, weil einige Leute ihre Interessen bündeln, dann ist das beeindruckend. Einen solchen Fonds für klinische Studien hätte man schon vor vielen Jahren realisieren können. Es fehlt offensichtlich nicht am Geld, sondern am Willen.

Der Studienfonds könnte aus mindestens drei Quellen Geld bekommen: aus Steuern, aus Kassen-Beiträgen sowie aus der Industrie, z.B. ein bestimmter Anteil der Marketing-Aufwände. Sie macht nach der Zulassung in der Regel keine Studien mehr und überlässt es dem Gesundheitssystem, offene Fragen zu klären. Man könnte nun sagen: Wenn Ihr Euch nicht darum kümmert, dann tun wir es und Ihr gebt ein Drittel dazu. Das wäre doch eine Möglichkeit.

Die Industrie plagt oft ein anderes Problem. Sie nimmt neue Medikamente gelegentlich vom Markt, wenn sie keinen Zusatznutzen attestiert bekommen und daher nur Generikapreise in Aussicht stehen. Das ist gerade in der Psychiatrie ein Problem. Viele Ärzte hätten solche Medikamente aber gerne zur Second- und Third-line-Therapie. Ist das AMNOG hier über das Ziel hinausgeschossen?

Windeler: Das AMNOG ist daran nicht schuld. Die Unternehmen entscheiden aus finanziellen Gründen, ein wirksames Medikament vom Markt zu nehmen. Nicht das AMNOG verringert die therapeutische Vielfalt, wohl aber das finanzielle Interesse der Unternehmen.

Der Punkt ist doch: Weshalb sollen wir mehr bezahlen für ein neues Medikament, von dem wir nicht wissen, dass es besser ist als das, was wir bereits haben? In bestimmten Fällen könnte eine solche Arznei zur Second- oder Third-line-Therapie hilfreich sein, etwa bei Epilepsie und Depression, was damit zu tun hat, dass Ärzte ziemlich viel probieren müssen, um das passende Medikament zu finden. Aber Vielfalt ist doch kein Selbstzweck. Gerade hier wäre es wichtig, in eine Forschung zu investieren, die etwas mehr Rationale in die Auswahl bringt. Statt das 16. Antidepressivum auf den Markt zu bringen, wäre es sinnvoller zu schauen, welche der 15 bereits vorhandenen man warum wo einsetzt. Vielleicht benötigt man nur fünf?

Also Head-to-Head-Studien mit mehreren Wirkstoffen?

Windeler: Ja, wir brauchen vernünftige vergleichende randomisiert-kontrollierte Studien, um herauszufinden, was bei wem besser wirkt.

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