Frühe Nutzenbewertung

"Ein gutes Arztinfosystem ist eine große Herausforderung"

Die komplexen Informationen, die bei der frühen Nutzenbewertung über neue Arzneimittel gewonnen werden, werden von Ärzten bei ihren Verordnungsentscheidungen kaum genutzt. Julian Witte, Ko-Autor des DAK-AMNOG-Reports, nimmt im Interview der "Ärzte Zeitung" Stellung zu den Herausforderungen, ein für die Praxis nützliches Arztinformationssystem zu entwickeln.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Julian Wille, Ko-Autor des DAK-AMNOG-Reports: Was ich nicht verstehe ist, dass die Möglichkeit von Preis-Volumen-Verträgen nicht genutzt wird. © privat

Julian Wille, Ko-Autor des DAK-AMNOG-Reports: Was ich nicht verstehe ist, dass die Möglichkeit von Preis-Volumen-Verträgen nicht genutzt wird. © privat

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Ärzte Zeitung: Nutzenbewertungen sind seit sechs Jahren Grundlage der Preisfindung für Kassen und Arzneimittelhersteller. Sie haben aber nur wenig Einfluss auf ärztliche Verordnungen. Warum?

Julian Witte

Studium der Wirtschaftswissenschaften; Master of Science 2012.

Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie der Universität Bielefeld zum Thema frühe Nutzenbewertung.

Julian Witte: Allein schon herauszufinden, ob und in welchem Umfang die Nutzenbewertung ärztliche Verordnungsentscheidungen beeinflusst, ist eine methodische Herausforderung. Es gibt einige wenige Untersuchungen, die versuchen, diesen Zusammenhang zu beleuchten. Wir haben uns im AMNOG-Report der DAK mit der Frage beschäftigt, wie sich neue Arzneimittel relativ im Markt entwickeln. Dabei haben wir festgestellt, dass sich nach wie vor innerhalb eines Jahres nach GBA-Beschluss kaum ein Unterschied in der Marktentwicklung in Abhängigkeit vom Ausmaß des Zusatznutzens zeigt.

Zudem haben wir geschaut: Was kommt bei den Ärzten an? Wann wird erstmals ein neues Arzneimittel verordnet? Und da zeigt sich: Es gibt keinen Einfluss der Nutzenbewertungsentscheidung des Bundesausschusses auf die Zahl der Ärzte, die ein neues Arzneimittel erstmalig verordnen. Dabei wäre zu erwarten, dass Ärzte unmittelbar nach dem Zeitpunkt der Nutzenbewertungsentscheidung auf das Produkt ein- oder umsteigen. Ein belastbarer Zusammenhang zeigt sich bislang jedoch nicht.

Woran liegt es?

Schwer zu sagen. Vielleicht sind die Informationen der Nutzenbewertung zu komplex, zu weit weg von der Versorgungswirklichkeit, von Fragen, die Ärzte sich bei der Verordnungsentscheidung stellen. Oder die relevanten Informationen kommen bei den Ärzten gar nicht an.

Helfen soll nun das geplante Arztinformationssystem. Hier konfligiert aber der Wunsch nach Einfachheit und Verständlichkeit mit der Forderung nach möglichst korrekter und differenzierter Abbildung der therapeutischen Wirklichkeit...

Was man auf jeden Fall vermeiden muss, ist eine Art Minimalkonsens, der darauf hinausläuft, dass nur die Beschlüsse des GBA als PDF-Datei zur Verfügung gestellt werden. Was wir brauchen, sind verordnungssynchrone Informationen zum Zeitpunkt der Verordnungsentscheidung des Arztes. Es ist eine große Herausforderung, die volatile Informationsmenge der Nutzenbewertung im richtigen Umfang, in der richtigen Verdichtung und der richtigen Darstellungsart aufzubereiten. Da muss viel Expertise zusammengetragen werden, auch die von Kommunikationsexperten. Das Wichtigste ist: Die letztliche Umsetzung muss evaluiert und erprobt werden. Wir raten dringend dazu, aber bislang ist dies nicht vorgesehen.

Die Frage ist ja auch, wie viel Zeit dem Arzt dadurch "gestohlen" wird, wenn er bei jeder Verordnung eines AMNOG-Präparats mit dem Arzt- Infosystem konfrontiert wird?

Völlig richtig. Vor allem auch dann, wenn damit komplexe Leitlinien abgebildet werden sollen, wie es Onkologen wie Professor Wörmann fordern. Da muss man überlegen, wie ein solch komplexer Entscheidungsbaum in mehreren Abrufstufen zur Verfügung gestellt werden kann. Das entscheidende und spannende ist aber die Verdichtung auf der ersten Informationsstufe.

Aus der Sicht des Arztes ist das eine Frage der Zeit und letztlich auch der Vergütung, insbesondere für die Implementation eines solchen Systems in die Praxissoftware und die ständige Aktualisierung.

Wird der Mischpreis nach dem LSG-Beschluss von Ende Februar künftig noch Bestand haben können?

Das wird spannend und konfliktträchtig. Man wird sehen müssen, wie die Vertragsparteien – Hersteller und Kassen – das in nächster Zeit ganz praktisch umsetzen werden. Die Sorge von Herrn Professor Wasem (der Vorsitzende der Schlichtungsstelle; Red.), dass es fast regelmäßig zu Verordnungsausschlüssen kommen wird, teile ich nicht. Ich vermute, dass der GBA das Instrument des Verordnungsausschlusses zunächst sehr vorsichtig einsetzen wird.

Was ich nicht verstehe ist, dass die Möglichkeit von Preis-Volumen-Verträgen nicht genutzt wird. Es ist auch nicht zu erwarten, dass Hersteller Situationen, in denen die realen Volumina über den zuvor vereinbarten liegen, einseitig zu ihrem Vorteil ausnutzen. Spieltheoretische Überlegungen lassen vermuten, dass ein einseitiger Vorteil dauerhaft nicht haltbar ist, weil die Unternehmen im Zeitablauf immer wieder in Verhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband stehen. Zudem sind solche Verträge international durchaus erprobt.

Diese Verträge hätten auch den Vorteil, dass die Ärzte aus der Kostenverantwortung heraus wären?

Es sollte nicht vorgesehen sein, die Ärzte ganz aus der Verantwortung für die Wirtschaftlichkeit zu entlassen. Aber man muss sie aus der Verantwortung für den Preis herausnehmen. Denn diesen reguliert das AMNOG durch die Preisbildungssystematik zwischen GKV-Spitzenverband und Unternehmer auf Basis der Nutzenbewertung.

Können Sie eine Prognose wagen, wann das politische Ziel von zwei Milliarden Euro erreicht wird?

Nach Daten, die uns vorliegen, könnte das schon 2017 realisiert werden. Allerdings hat sich diese in der Gesetzesbegründung des AMNOG noch genannte Größenordnung durch andere regulatorische Eingriffe wie die Abschaffung des Bestandsmarktaufrufes inzwischen relativiert.

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