Raus aus dem System, raus aus der Umklammerung

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Ist er das gewesen, der Tag der Wende, der für niedergelassene Ärzte in Baden-Württemberg in die Geschichtsbücher eingehen wird? Als mehr als 7000 Ärzte sich am Mittwochabend anschicken, die Stuttgarter Hanns-Martin Schleyer-Halle wieder zu verlassen, da ist bei Baden-Württembergs Medi-Chef Dr. Werner Baumgärtner Erleichterung zu spüren. "Es war eine großartige Veranstaltung," ruft er den Kolleginnen und Kollegen zum Abschied zu, "ich bin zufrieden und begeistert."

Der Medi-Chef hat zunächst die Probleme skizziert, mit denen die Kollegen zunehmend konfrontiert werden: mehr als bescheidene Honorare, zu viel Bürokratie und immer wieder Gängelungen durch die Politik. "Wir müssen die Rahmenbedingungen verbessern, sonst wird der Freiberufler in der Praxis in Deutschland ein Auslaufmodell", sagt er, und erläutert die Gegenstrategie: den Ausstieg aus dem KV-System. Ziel sei es, dass 70 Prozent der 16 000 im Südwesten niedergelassenen Ärzte eine Zulassungsverzichtserklärung unterschreiben und aus dem System aussteigen. Die Aktion läuft bis Ende 2009. Die Kisten für die Ausstiegserklärungen im Saal sind aufgestellt. Über das Ergebnis will Medi erst später berichten. Baumgärtner stellt klar, dass er keinen Widerspruch zwischen den Ausstiegsbemühungen und den Verhandlungen seiner Organisation und des Hausärzteverbandes mit der AOK Baden-Württemberg über die hausarztzentrierte Versorgung sieht, obwohl dieser Vertrag eine Kassenzulassung voraussetzt. Wie passt das zusammen? "Es macht Sinn, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen", sagt der Medi-Chef. Der Vertrag werde bis Anfang Mai unter Dach und Fach sein und den Ärzten "dramatisch bessere" Vergütungen bringen.

Baumgärtner will nicht auschließen, dass es möglich sein könnte, diesen Hausarztvertrag auch bei einem Systemausstieg weiterlaufen zu lassen. Der Verbandschef vertraut dabei auf die normative Kraft des Faktischen. "Ich will die Kasse sehen, die bei einem Systemversagen einen funktionierenden Vertrag kappt, mit dem 40 Prozent der Versicherten gut versorgt werden.", sagt er, und erntet donnernden Applaus.

Jetzt kommt der bayerische Hausärztechef Dr. Wolfgang Hoppenthaller. Die Korbveranstaltung in Nürnberg sei ein Fest der Emotionen gewesen, erläutert er rückblickend. Doch Emotionen zählen am Ende nicht allein, gefragt sind harte Fakten. In drei von sieben bayerischen Regierungsbezirken liege die Zahl der Ärzte, die ihren Ausstieg aus dem KV-System erklärt haben, bei fünfzig Prozent. In einem davon sogar darüber. "Wir haben auch Landkreise mit einer Beteiligung von 70 und einen mit 85 Prozent", sagt Hoppenthaller, und lässt dann doch keinen Zweifel: "Für einen Ausstieg reicht es nicht."

Wie soll's weitergehen? Über mangelnde Unterstützung kann sich der Mann aus Bayern zumindest in der Schleyer-Halle nicht beklagen. Nicht nur Baumgärtner, der "den Schulterschluss mit den bayerischen Hausärzten" als eines der Kernziele der Stuttgarter Veranstaltung genannt hat, ist voll des Lobes. Auch Dr. Klaus Bittmann ("50 Prozent Zustimmung sind eine irre Leistung"), Chef des NAV-Virchowbunds und der Ärztegenossenschaften, mahnt Hoppenthaller, sich nicht entmutigen zu lassen.

Nachdem in Nürnberg der Ausstieg nicht gelungen sei, habe sich vor den Hausärzten eine Mauer aus CSU, bayerischer Staatsregierung, Kassen, KV und sogar dem DGB aufgebaut, berichtet Hoppenthaller. Hausärzte seien "mit einem "Trommelfeuer an Drohfaxen" attackiert worden.

Grund zur Resignation? Nicht für die Schwäbin Renate Hartwig. Sie ist Gründerin einer Patienteninitiative und hat mit ihrem beeindruckenden Detailwissen über die Arbeitsbedingungen von Ärzten schon in Nürnberg viele Ärzte begeistert.

575 000 Unterschriften hat sie mit freiwilligen Helfern in Bayern innerhalb von nur zwei Wochen für einen Forderungskatalog gesammelt, in dem ohne jedes wenn und aber der Schulterschluss von Patienten mit niedergelassenen Ärzten propagiert wird. "Wir unterstützen die Entscheidung unseres Arztes, sich der über Jahre andauernden Versklavung entgegenzustellen, indem er dieses System verlässt," heißt es in dem Papier. Dafür gibt es in der Halle viel Beifall. Die Schwäbin strotzt vor Tatendrang. Die Kampagne soll jetzt auch in Baden-Württemberg gestartet werden. Beschwörend hebt sie den Zeigefinger ihrer rechten Hand: "Diese Aktion wird auf ganz Deutschland ausgeweitet, dafür werde ich sorgen!"

Die Teilnehmer verabschieden dann einstimmig einen Katalog mit präzisen Forderungen an die Politik: Dazu gehören: Erhalt der freien Arztwahl, feste Vergütung nach Stundensätzen, Ende von Budgetierung und Rationierung. Und: 25 Prozent der GKV-Ausgaben für ambulante Versorgung durch niedergelassene Ärzte.

Am Schluss ihrer Rede ruft Patientenvertreterin Hartwig den Ärzten eine alte Weisheit der Dakota-Indianer zu, die ihnen in schwierigen Zeiten Orientierung im KV-System geben soll. Bei Renate Hartwig klingt diese Weisheit wie ein Befehl: "Wenn dein Pferd tot ist, dann steig ab!", ruft sie mit ohrenbetäubend lauter Stimme. Da können die Ärzte in der Schleyer-Halle gar nicht anders: sie stehen auf, vor Begeisterung, Ovationen.

Christoph Fuhr

Wie funktioniert das Korbmodell?

Erst wenn 70 Prozent der niedergelassenen Ärzte eines Regierungsbezirks sich entscheiden, die Kassenzulassung zurückzugeben, kann es mit dem "Systemausstieg" losgehen. Dann wird in diesem Bezirk von der MEDI-Verbund GmbH eine Versammlung einberufen, in der nochmals abgestimmt wird, ob die Zulassungsverzichtserklärungen endgültig dem Zulassungsausschuss übergeben werden. Danach erhalten die Ärzte erneut eine 7-Tage-Frist, in der sie ihre Entscheidung überdenken können. Sinkt innerhalb dieser Zeit die Quote der Teilnehmer nicht unter 67 Prozent, bekommt der Ausschuss die gesammelten Verzichtserklärungen.

Patienten sind von dem Systemausstieg nicht betroffen, da die Arztrechnungen weiterhin nicht an sie, sondern an ihre Krankenkasse gehen. Die Patienten legen also weiter dem Arzt ihre Chipkarte vor. Die Kassen würden nach Angaben von MEDI monatlich dann rund 2,6 Millionen Rechnungen erhalten. Voraussetzung, dass die aussteigenden Ärzte nach dem Systemumstieg noch Kassenpatienten behandeln können, ist, dass ein Systemversagen vorliegt. Das ist nach Auskunft von MEDI dann der Fall, wenn Patienten die ihnen zustehenden Leistungen ohne die Ärzte vor Ort nicht mehr erhalten können. Das Systemversagen werde weder durch die Selbstverwaltung noch durch die Aufsichtsbehörde festgestellt.

Die Initiatoren des Ausstiegs erwarten deshalb eher keine rechtliche, sondern eine politische Lösung dieser Situation.

(mm)

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