Ärztemangel - latentes Problem oder künstliche Aufregung?

Baden-Württemberg gilt als Musterländle: hohe Wirtschaftskraft, gute medizinische Versorgung. Ob das auch in Zukunft Bestand hat - darüber gehen die Meinungen auseinander. Was muss getan werden, kurz- und langfristig? Dazu hat die "Ärzte Zeitung" Baden-Württembergs KV-Chef Dr. Achim Hoffmann-Goldmayer und Walter Scheller, Leiter der Landesvertretung des Ersatzkassenverbands vdek, zum Streitgespräch geladen.

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"Allein mit finanziellen Anreizen wird man eine Infrastruktur, die in einer Gemeinde fehlt, nicht kompensieren können." Dr. Achim Hoffmann-Goldmayer, Vorsitzender des Vorstands der KV Baden-Württemberg

Ärzte Zeitung: Wie bewerten Sie gegenwärtig die ambulante Versorgung in Baden-Württemberg?

Walter Scheller: Die ambulante Versorgung im Land ist gut. Bei all den Berichten über angebliche Engpässe handelt es sich um gefühlte Wahrnehmungen. Wir sind weit von einer Unterversorgung entfernt.

Dr. Achim Hoffmann-Goldmayer: Die gegenwärtig gute Versorgung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in Zukunft nicht mehr in der Lage sein werden, jeden Arztsitz nachzubesetzen. In diesen Tagen hat ein Kollege in meinem Landkreis Sigmaringen seine Zulassung zurückgegeben. Trotz aller Bemühungen ist die Suche nach einem Nachfolger gescheitert. Gleichzeitig haben wir dort noch einen Versorgungsgrad bei Hausärzten von 110 Prozent.

Ärzte Zeitung: Wie wird die Versorgung im Jahr 2025 aussehen?

Hoffmann-Goldmayer: Da ist keine Antwort für ganz Baden-Württemberg möglich. Es gibt Bedarfsplanungsregionen wie in Emmendingen nahe Freiburg, in denen der Anteil der hausärztlichen Kollegen über 60 Jahre etwa 33 Prozent beträgt, in anderen Regionen sind es nur 14 Prozent. Die Frage der Nachbesetzung von Arztsitzen stellt sich regional ganz unterschiedlich. Allerdings hilft uns die Analyse nur bedingt weiter: Die Kammern melden drastische Rückgänge bei Facharztprüfungen für Allgemeinmedizin.

Scheller: Wir gehen in Baden-Württemberg von einer vermutlich überdurchschnittlich schrumpfenden Bevölkerung aus. Wo es weniger Menschen gibt, werden wir auch weniger Ärzte brauchen. Hinzu kommt: Gerade auf dem Land stellen wir eine massiv wachsende Mobilität fest. Es gibt auch nicht mehr einen Tante-Emma-Laden an jeder Ecke. Warum soll das bei Ärzten anders sein? Nehmen wir eine Region wie Heidelberg. Dort kommen rund 250 Menschen auf einen Hausarzt. Das ist viel zu viel. Hier müssen wir die Versorgung mit dem Instrument der Zu- und Abschläge steuern.

Hoffmann-Goldmayer: Im Saldo wird man in fast jeder KV-Region eine Gruppe von Ärzten haben, die in Bedarfsplanungsbezirken mit über 110 Prozent Deckung praktizieren. Ich widerspreche Herrn Scheller aber, wenn er meint, man könne über Honorar-Abschläge Verlagerungen von Praxen quasi erzwingen.

"Eine Arztflucht aus Baden- Württemberg in andere Bundesländer habe ich noch nicht feststellen können." Walter Scheller, Leiter der Landesvertretung Baden-Württemberg des vdek

Ärzte Zeitung: Es gab zuletzt parlamentarische Anfragen im Baden-Württembergischen Landtag, wo von "Notstandsversorgung" die Rede war. Angesprochen waren dabei Regionen, in denen der Versorgungsgrad über 140 Prozent beträgt. Existiert in der Bevölkerung eine Anspruchshaltung, die nicht mehr finanzierbar ist?

Scheller: Zwischen 1980 und 2007 ist die Arztdichte in Baden-Württemberg um 30 Prozent gestiegen. Auch wenn man die Abgänge von Ärzten, die in den Ruhestand gegangen sind, berücksichtigt, hat am Ende eines jeden Jahres immer ein Plus in der Bilanz gestanden. Mit dieser Arztdichte ist auch die Anspruchshaltung der Versicherten gewachsen. Das wird zudem oft von den Medien mit der Botschaft interpretiert: Es gibt keine Hausärzte mehr. Dem ist nicht so. Ich habe die Zahlen geprüft: Sachsen hat in den Jahren 2001 bis 2006 insgesamt 39 Ärzte verloren, in Thüringen sind es 76 Ärzte weniger. Hier wird ein Problem hochgepusht.

Hoffmann-Goldmayer: Ein Bürgermeister, der seine 1400 Einwohner nicht mehr mit einem eigenen Hausarzt versehen kann, empfindet die Sicherstellung als nicht mehr gewährleistet. Nach allen Vorgaben, die wir von der Politik erhalten, kann davon aber keine Rede sein. Hier ist die Politik gefordert, gegenüber den Bürgern für Klarheit zu sorgen.

Ärzte Zeitung: Es gibt weitgehenden Konsens, dass die bisherige Bedarfsplanung überarbeitet werden muss. Muss sie einfach nur räumlich trennschärfer werden oder brauchen wir völlig neue Instrumente?

Hoffmann-Goldmayer: Wir sollten uns verabschieden von einer sektoralen Bedarfsplanung, also eine ambulante Bedarfsplanung und eine Krankenhausplanung, die unabhängig voneinander existieren. Dafür hat uns das neue Vertragsarztrecht viele Steilvorlagen gegeben. Stichwort: Filialpraxen. Und durch eine kleinräumigere Bedarfsplanung haben wir noch lange keinen Arzt, der auch bereit ist, sich niederzulassen.

Scheller: Der sektorenübergreifende Ansatz ist richtig. Die Krankenhäuser in Baden-Württemberg sind in der Regel nur zu 80 Prozent ausgelastet. Auch ich halte es für falsch, die Bedarfsplanung einfach nur kleinräumiger zu machen. Wir müssen uns auch die Grenzen zu anderen Bundesländern anschauen. Es ist nicht sinnvoll, die Haustür an der Landesgrenze zuzumachen und sich nicht die Versorgung ein paar Kilometer jenseits dieser Grenze anzuschauen.

Ärzte Zeitung: Die KBV hat im Zuge einer Reform der Bedarfsplanung einen Regionalverbund vorgeschlagen, in dem KV, Ärztekammern, Krankenhausgesellschaft und Ministerium das Sagen haben sollen. Kassen dürften danach nur beratend dort tätig sein. Einverstanden?

Scheller: Nein, bin ich nicht. Die Krankenkassen möchten nicht nur Payer, sondern auch Player auf Augenhöhe mit Leistungserbringern und anderen Akteuren sein. Es kann nicht sein, dass wir nur beraten dürfen und nachher die Zeche zahlen müssen.

Hoffmann-Goldmayer: Ich stimme Herrn Scheller zu.

Ärzte Zeitung: Baden-Württemberg gilt als Verliererland der Vergütungsreform. Wie entscheidend ist der Faktor Geld für die Frage der Gewinnung von Nachwuchs?

Hoffmann-Goldmayer: Wenn ein Niedergelassener seine Praxis nicht mehr refinanzieren und verkaufen kann, dann überlegen sich junge Kollegen, ob sie nicht woanders hingehen. Allerdings: Allein mit finanziellen Anreizen werde ich eine Infrastruktur, die in einer Gemeinde fehlt, nicht kompensieren können. Beides muss zusammenpassen: Honorar und Infrastruktur.

Scheller: Eine Arztflucht aus Baden-Württemberg in andere Bundesländer habe ich noch nicht feststellen können. Sicherlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Vergütung und Niederlassung. Aber durch die Konvergenzregelung werden die Verluste auf minus fünf Prozent begrenzt. Es sind für Ärzte in Baden-Württemberg Pfründe verloren gegangen, mehr aber nicht.

Hoffmann-Goldmayer: Das sehe ich anders. Aus meiner Sicht sind Praxen tatsächlich gefährdet. Die Dimension der Verluste ist besorgniserregend. Die Honorarreform hat in Baden-Württemberg dazu geführt, dass im zweiten Quartal vergangenen Jahres 4700 Praxen einen Umsatzverlust im zweistelligen Prozentbereich verkraften mussten.

Ärzte Zeitung: Können Medizinische Versorgungszentren für den wachsenden Anteil an Ärztinnen eine Beschäftigungsoption sein, die die ambulante Versorgung stützt?

Hoffmann-Goldmayer: Ein MVZ - egal in welcher Trägerschaft - wird die absehbaren Probleme des ärztlichen Nachwuchses nicht mildern.

Die Fragen stellte Florian Staeck.

Nach dem neuen Versorgungsbericht der KV kommt rechnerisch ein Hausarzt auf 1500 Einwohner. Gegenwärtig sorgen im Südwesten 8013 Haus- und Kinderärzte, 7619 Fachärzte und 2793 psychologische Psychotherapeuten für die ambulante Versorgung. Schaut man sich die Altersstruktur der Ärzte an, ist die Lage weniger rosig. So sind 19 Prozent der Hausärzte zwischen 60 und 65 Jahren, auf Bundesebene sind es 16 Prozent. Die größte Gruppe sind mit 41 Prozent die 50- bis 59-Jährigen. Die unter 39-Jährigen machen nur einen Anteil von fünf (Bund: sechs) Prozent der Hausärzte aus.

Der Ersatzkassenverband vdek dagegen hält fest: Von den 602 Bereichen, in denen die Versorgungsstruktur geprüft wird, seien 565 wegen Überversorgung gesperrt. Bei Hausärzten gebe es "grundsätzlich eine Überversorgung". Wenn in den nächsten Jahren über 600 Hausärzte in den Ruhestand gehen, dann "würde man sich einem Normalzustand nähern".(fst)

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