"Wir brauchen ein Gesetz, das schnell wirkt"

In Berlin ist Dr. Maximilian Gaßner der Bote schlechter Nachrichten: Das prognostizierte Defizit der GKV beläuft sich 2011 auf rund elf Milliarden Euro, mahnt der Präsident des Bundesversicherungsamtes. Handelt die Regierung nicht schnell, geht bei vielen Kassen das Licht aus.

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Ärzte Zeitung: Herr Dr. Gaßner, wie schätzen Sie aus heutiger Sicht die Finanzentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2011 ein?

Dr. Maximilian Gaßner: Bei einer Steigerung der Einnahmen um ein Prozent und der Ausgaben um fünf Prozent müssen wir mit über elf Milliarden Euro Defizit rechnen.

Ärzte Zeitung: Wird das viele Kassen zwingen, einen Zusatzbeitrag zu erheben?

Gaßner: Wir haben aktuell 13 Kassen, die Zusatzbeiträge erheben. Wir rechnen damit, dass es im Laufe des Jahres mehr werden. Wenn wir von einem Defizit von elf Milliarden Euro ausgehen, wird es im Jahr 2011 nur noch relativ wenige Kassen geben, die keinen Zusatzbeitrag verlangen müssen. Durch die Ein-Prozent-Regel kommt der Zusatzbeitrag an sein Limit. Wenn der Bedarf der Krankenkasse größer ist als das, was sie darüber schöpfen kann, wird sie sicherlich Finanzierungsprobleme bekommen und kann in die Insolvenz gehen.

Ärzte Zeitung: Wäre das Aussetzen der Ein-Prozent-Regel für 2011 eine Lösung?

Gaßner: Fällt die Regelung vollständig, bleibt die Frage: Was tun wir mit den Leuten, die das nicht finanzieren können? Und wir müssen das Problem lösen, dass die Einnahmebasis nicht bei allen Kassen gleich ist; das heißt, eine Krankenkasse mit vielen einkommensschwachen Mitgliedern nimmt über den Zusatzbeitrag weniger ein als eine Krankenkasse mit vielen Gutverdienern.

Ärzte Zeitung: Ist die Erhöhung des Beitragssatzes durch die Politik eine Option?

Gaßner: Nach den gesetzlichen Spielregeln muss der Beitragssatz nur dann geändert werden, wenn die Deckungsquote von 95 Prozent zweimal unterschritten wurde. 2010 haben wir im Fonds eine Quote von 98 Prozent. Bei dem unterstellten Defizit von elf Milliarden Euro würde die Quote 2011 erstmals unter 95 Prozent sinken. Nach den jetzigen Regularien ist das Instrument also nicht in der Lage, den notwendigen und vorhersehbaren Finanzbedarf der Kassen zu decken. Es besteht Handlungsbedarf. Wenn sich an den Spielregeln nichts ändert, könnten viele Kassen insolvent werden.

Ärzte Zeitung: Muss Ihrer Meinung nach also schnell etwas passieren?

Gaßner: Ja, ich sehe unmittelbaren Handlungsbedarf. Wir brauchen möglichst bald ein Gesetz mit Maßnahmen, die schnell wirken. Langfristig wirksame Instrumente bei der Finanzierung und auf der Kostenseite reichen nicht aus.

Ärzte Zeitung: Erwarten sie angesichts der angespannten Finanzlage vieler Kassen eine deutliche Zunahme der Fusionen?

Gaßner: Die Finanzlage der Kassen macht das Fusionsgeschäft schwieriger. Außerdem ist die Zahl der Kassen und damit der potenziell willigen Fusionspartner durch die ständigen Zusammenschlüsse in der Vergangenheit schon geringer geworden. Aber die Zahl der Krankenkassen wird sich weiter reduzieren. Ich mahne zur Vorsicht in der Argumentation. Wir tun immer so: je weniger Krankenkassen, desto besser. Diesen Satz kann man schon aus wettbewerblicher Sicht so nicht unterschreiben. Und Größe führt nicht automatisch zu höherer Effizienz.

Ärzte Zeitung: Mussten Sie schon Kassen, die in Schieflage geraten sind, zu einer Fusion mit einem aufnahmewilligen Partner zwingen?

Gaßner: Eine Zwangsfusion hat es bis dato nicht gegeben. Und weder wir noch die Landesaufsichten haben bisher für eine Kasse den Insolvenzantrag gestellt.

Ärzte Zeitung: Sehen Sie ein Problem durch Fusionen von großen Krankenkassen?

Gaßner: Wenn eine Kasse nach einer Fusion einen Marktanteil von 40 oder 50 Prozent erreicht, gibt es kartellrechtliche Probleme. Aber selbst unterhalb dieser Größe stellen sich machtpolitische Fragen. Eine Kasse, die bundesweit statt elf oder zwölf Prozent Marktanteil 20 oder 25 Prozent hat, ist ein Koloss an Finanzausstattung, Mitgliederzahl und Mitarbeiterzahl. Da muss sich die Politik überlegen, ob sie das will, oder lieber nicht, weil die Einflussnahme durch die Kasse dann zu groß ist.

Ärzte Zeitung: In Ihrer Tätigkeit in Bayern galten Sie als scharfer Kritiker des Gesundheitsfonds. Erfüllt der Fonds in Ihrer heutigen Sicht die mit ihm verbundenen Ziele?

Gaßner: Der Gesundheitsfonds ist reibungslos eingeführt worden, und er funktioniert. Er hat in der Finanzkrise das System stabilisiert, indem er die vom Bund bereitgestellten Mittel reibungslos in das System eingespeist hat. Ein wesentlicher Teil der Kritik ist Makulatur, vor allem der Vorwurf, dass er ein administratives Monster ist. Er wird von rund 25 Mitarbeitern verwaltet, die im Jahr rund 170 Milliarden Euro bewegen.

Ärzte Zeitung: Wie könnte die von der Koalition gewollte regionale Komponente im Fonds aussehen? Wäre die Anbindung an die Grundlohnsumme ein gangbarer Weg?

Gaßner: Das ist ein theoretisch denkbarer Ansatz. Aber damit machen Sie einen Teil der politisch gewollten Egalisierung der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder durch den Fonds wieder zunichte. Ohne die Egalisierung auf der Einnahmenseite kann das Gesundheitswesen nicht funktionieren. Einige Bundesländer haben nicht die nötige Wirtschaftskraft, um einen auf Bundesebene geforderten Versorgungsstandard finanzieren zu können. Wir werden nicht auf einen Einkommensausgleich verzichten können. Ärzte Zeitung: Die anfängliche Aufregung über Krankenkassen, die mit Blick auf den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich versucht haben sollen, Ärzte zum sogenannten Upcoding zu animieren ist abgeflacht. Woran liegt das? Gaßner: Das Gesetz ist korrigiert worden. Wir prüfen und wenn wir Manipulationen und ähnliches feststellen, können wir die Zuweisungen an die Kassen kürzen. Das hat sicherlich die Motivation zu tricksen auf der Kassenseite gedämpft. Bisher haben wir noch bei keiner Kasse gekürzt, denn die Prüfungen laufen noch.

"Wir tun immer so: je weniger Krankenkassen, desto besser. Diesen Satz kann man schon aus wettbewerblicher Sicht so nicht unterschreiben."
© Ilse Schlingensiepen

"Wir tun immer so: je weniger Krankenkassen, desto besser. Diesen Satz kann man schon aus wettbewerblicher Sicht so nicht unterschreiben." © Ilse Schlingensiepen

© Ilse Schlingensiepen

Dr. Maximilian Gaßner ist seit dem 5. März 2010 Präsident des Bundesversicherungsamts.

Werdegang/Ausbildung: Nach Studium, Promotion und wissenschaftlicher Arbeit an der Münchener Universität war Gaßner zunächst als Richter am Arbeitsgericht München tätig. Darauf folgten Tätigkeiten in verschiedenen bayerischen Ministerien.

Karriere: Zuletzt war der 60-jährige Jurist Leiter der Abteilung Krankenversicherung im Bayerischen Gesundheits- und Umweltministerium. Die bayerischen Zahnärzte durften Gaßner in einer ganz besonderen Funktion kennenlernen. Im Jahr 2004 war er im Auftrag von Sozialministerin Christa Stewens (CSU) für einige Zeit Staatskommissar bei der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Bayerns. (iss)

Seit Anfang 2009 ist das BVA für die Verwaltung des Gesundheitsfonds zuständig. Die Mitarbeiter der Bonner Behörde sind den Umgang mit imposanten Geldströmen gewohnt. Eine zentrale Aufgabe des BVA ist die Durchführung des morbitätsorientierten Risikostrukturausgleichs zwischen den Kassen. Das BVA ist auch zuständig für die Zulassung der Disease-Management-Programme. (iss)

Die Fragen stellten Ilse Schlingensiepen und Florian Staeck.

Lesen Sie dazu auch: 2011 drohen Kassenpleiten

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