Hintergrund

Kritische H1N1-Bilanz: Nur ärztlicher Rat hilft gegen Hysterie

Aus der Verunsicherung und dem Informations- chaos während der Schweinegrippe sollten nach Meinung von Experten schnell Konsequenzen für künftige Pandemien gezogen werden.

Von Thomas Trappe Veröffentlicht:
Leere Wartezimmer: Das Interesse an der H1N1-Impfung war gering.

Leere Wartezimmer: Das Interesse an der H1N1-Impfung war gering.

© dpa

Es sind keine Bestnoten, die der Präsident der Sächsischen Landesärztekammer, Jan Schulze, seinen Kollegen erteilt. Mindestens "kritisch hinterfragt" werden müsse, was alles schief ging, als im Frühjahr 2009 die sogenannte Schweinegrippe Sachsen erreichte.

Schulze spricht von einem "Informationschaos" und von Ärzten, die ihre Patienten geradezu fahrlässig über vermeintliche Impf-Gefahren aufklärten. Sein Resümee ist klar: Die H1N1-Pandemie verlief "Gott sei Dank unerwartet mild", für das nächste Mal sei das aber nicht garantiert.

Der Freistaat und mit ihm die sächsischen Ärzte müssen nun dringend überlegen, wie eine Pandemie besser gemanagt werden kann. Schulze ist sich da einig mit dem Staatsministerium für Soziales, das zusammen mit der Kammer und der Kassenärztlichen Vereinigung jetzt bei einer Tagung in Dresden die Bewältigung der Pandemie auswertete.

Die Schweinegrippe kam 2009 aus Mexiko und den USA nach Deutschland. Ende Mai wurde in Sachsen der erste Fall festgestellt, ein Flugbegleiter aus Amerika war infiziert. Die Ausbreitung war rasant und lang anhaltend.

Bis Juli 2010 wurden laut Robert-Koch-Institut 10.600 Erkrankungen in Sachsen gemeldet. Die acht Todesfälle, die daraus resultierten, müssen als gering bezeichnet werden, zumindest gemessen an den Erwartungen.

Manche Schätzungen zu Beginn der Pandemie gingen von zigtausenden Toten aus. Bundesweit erkrankten 226.000 Menschen, es starben 257.

Gesundheitsämter setzten Vorgaben zu langsam um

Heidrun Böhm vom sächsischen Sozialministerium zeigte sich im Rückblick erleichtert, dass die Pandemie glimpflich ablief. Sie machte gegenüber den Ärztevertretern jedoch auch klar: Man geht im Ministerium nicht davon aus, dass das beim nächsten Mal ähnlich sein muss.

Deswegen müssten die Ärzte ihre Informationspolitik ändern. "Unser Ministerium hat sehr viele Informationen zur Pandemie zusammengetragen, und zwar sehr zeitig", sagte sie. Diese seien durch Ärzte aber oft nicht abgerufen worden.

"Es gibt nicht nur eine Bringschuld beim Ministerium, sondern auch eine Holschuld bei den Ärzten." Allerdings räumte Heidrun Böhm auch ein, dass bei vielen kommunalen Gesundheitsämtern Vorgaben aus dem Ministerium zu langsam umgesetzt worden seien.

14,2 Millionen Euro hatte der Freistaat laut Böhme 2009 und 2010 für H1N1-Impfstoffe ausgegeben, das reichte für knapp 930.000 Impfdosen. Die anfängliche Panik in weiten Teilen der sächsischen Bevölkerung, keine Impfung zu erhalten, wich dann aber offenbar schnell einem großen Desinteresse.

Nur jede dritte bestellte Impfung wurde gebraucht, nur sieben Prozent der Sachsen ließen sich impfen. Aus Sicht aller Experten bei der Veranstaltung eine fatal geringe Quote, exemplarisch für die bundesweite Situation.

Kammerpräsident Schulze machte dafür zunächst eine seiner Meinung nach verwirrende Berichterstattung in den Medien verantwortlich, sparte aber nicht mit Kritik am eigenen Berufsstand.

Die damals oft gehörte Meinung, eine Impfung gegen H1N1 berge Gefahren, sei auch von Ärzten verbreitet worden, nicht selten mit der Empfehlung, sich nicht impfen zu lassen. "Ich muss da die kritischen Ärzte deutlich auf ihre Sorgfaltspflicht hinweisen", so Schulze.

Allerdings seien die Ärzte selbst in einer schwierigen Lage gewesen. "Sie fühlten sich ebenfalls verunsichert und schlecht informiert durch widersprüchliche Aussagen." Gerade Mediziner, die sich als Impf-Experten ausgaben, hätten die Unsicherheit unter den Kollegen erhöht.

Gefäßchirurgen als Meinungsführer in Kliniken

Thomas Grünwald ist Impf-Experte am Klinikum St. Georg in Leipzig und konnte den Eindruck Schulzes nur bestätigen. In seiner Klinik seien es vor allem die Gefäßchirurgen gewesen, die unter den Kollegen verbreitet hätten, eine Impfung gegen Schweinegrippe berge mehr Gefahr als Nutzen. "Viele Ärzte haben da einfach abstruse Ideen", die sie dann an Patienten weitergeben würden.

Dazu passte die Zahl, die der in Hoyerswerda niedergelassene Arzt Thilo Wirth anführte. So seien nach offiziellen Statistiken nur 16 Prozent des medizinischen Personals gegen H1N1 geimpft gewesen. "Wir als Ärzte machen uns damit unglaubwürdig", kritisierte Thomas Grünwald.

Die Ziele von Ärzten und Regierung scheinen nach den durchwachsenen Erfahrungen bei der jüngsten Pandemie also klar formuliert. Bei der nächsten Pandemie soll die Strategie vorher feststehen, um zuverlässigere und vor allem einheitliche Informationen geben zu können.

Heike Bojunga, Dresdner Beraterin für Kommunikationsstrategien, erklärte, dass dafür vor allem die Vernetzung mit und unter den Ärzten verbessert werden müsse. Fänden die Patienten bei denen keinen Rat, würden sie sich in Internet-Blogs und Boulevard-Medien informieren -  der sicherste Weg zur nächsten Grippe-Hysterie.

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