Interview

"Pflegebeiträge zu erhöhen, ist kein Tabu"

Offen darüber zu reden, dass die ärztliche Versorgung und die Pflege die Menschen in Zukunft mehr kosten werden und dass dafür die Beiträge erhöht werden müssen, sei für sie kein Tabu, sagt die gesundheitspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Birgitt Bender.

Veröffentlicht:

Birgitt Bender

Aktuelle Position: Gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Werdegang/Ausbildung: Die 1956 geborene Grünen-Politikerin ist Juristin.

Karriere: Bender war 1988 duie erste weibliche Fraktionsvorsitzende im Stuttgarter Landtag. Heute ist sie unter anderem Mitglied des Gesundheitsausschusses des Bundestags.

Ärzte Zeitung: Frau Bender, der neue Gesundheitsminister Daniel Bahr feiert das anstehende Versorgungsgesetz als großen Schritt in Richtung einer besseren Versorgung der Patienten in Deutschland. Hat er damit Recht?

Birgitt Bender: Nein. Die schwarz-gelbe Koalition versteift sich darauf, Ärzte aufs Land locken zu wollen, wenn nicht gar zu prügeln. Dabei haben wir ein Nebeneinander von Überversorgung in den Städten und Unterversorgung in ländlichen Gebieten. Zudem gibt es ein Überangebot bei Fachärzten, und die Deutschen sind Weltmeister beim Nutzen von Kernspinuntersuchungen. Dadurch wird viel Geld vergeudet.

Ärzte Zeitung: Was würden Sie denn anders machen?

Bender: Es nützt nichts, nur auf die Arztzahlen zu schielen und zu sagen, dass wir mehr Ärzte auf dem Lande brauchen. Zwar brauchen wir mehr Hausärzte, vor allem solche mit geriatrischer Kompetenz. Wir brauchen aber auch eine Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe und eine vernetzte Versorgung.

Ärzte Zeitung: Sie sprechen von Delegation und Substitution?

Bender: Bisher fordern Ärzte zwar Entlastung, haben aber gleichzeitig Ängste, dass ihnen Handlungsfelder weggenommen werden. Sie müssen zu Teamspielern werden. Andere Gesundheitsberufe - insbesondere Pflegekräfte - müssten entsprechend geschult werden und dann in vernetzten Strukturen mehr Kompetenzen erhalten. Ein Verordnungsrecht für Pflegekräfte in solchen Netzen wäre sinnvoll.

Ärzte Zeitung: Würden die Grünen sich an ein Präventionsgesetz machen, wenn sie wieder Regierungsverantwortung trügen?

Bender: Ja. Wir stecken meiner Ansicht nach immer noch viel zu viele Ressourcen in den Reparaturbetrieb. Es geht um eine gute Behandlung, aber es geht auch darum, Menschen in ihrer Gesundheit zu stärken, bevor sie krank werden. Ein Präventionsgesetz würde den Ordnungsrahmen liefern und die finanziellen Maßnahmen bündeln.

Ärzte Zeitung: Das klingt einfach. Aber wie würden Sie zum Beispiel Migrantenkinder erreichen wollen?

Bender: Bisher ist Prävention an den Marketinginteressen der Krankenkassen orientiert. Es ist zwar sehr schön, wenn Radfahren und Inlineskaten von einer Kasse unterstützt werden. Aber davon haben Menschen in benachteiligten Stadtteilen nichts. Deswegen muss man einen Teil der Mittel aus dem Kassenwettbewerb herausnehmen. Man muss in die Kitas und Schulen, Betriebe und Bürgerhäuser. Eine gute Bildungspolitik ist für die Gesundheit mitentscheidend.

Ärzte Zeitung: Und wie wollen Sie die Kinder nach dem Gong erreichen?

Bender: Da gibt es bereits Ansätze. In Stuttgart werden mit Migrantenkindern Ausflüge in Wälder gemacht, damit sie überhaupt mal aus ihrer steinernen Umwelt herauskommen. Die Eltern kann man dadurch einbeziehen, dass man mit Kulturvereinen der Migrantenszene zusammenarbeitet.

Ärzte Zeitung: Ein Blick in die Zukunft: Wird es bei der nächsten Bundestagswahl wieder um Kopfpauschale versus Bürgerversicherung gehen?

Bender: Es gibt nicht nur ein Modell einer Bürgerversicherung. Im Gegensatz zu unserem Modell ist die SPD-Bürgerversicherung eine Mogelpackung. Da steht zwar Bürgerversicherung drauf, die steckt da aber nicht drin. Mit der Bürgerversicherung muss man Menschen mit guten Einkommen durchaus etwas abverlangen. Davor scheut sich die SPD. Da duckt sie sich weg.

Ärzte Zeitung: Sie wollen also ran an alle Einkünfte der Mittelschicht, also auch an Mieten und Zinsen?

Bender: Wir reden sehr offensiv darüber, dass es mehr Belastungen geben wird. Übrigens auch in der Pflege. Mehr Solidarbeitrag der Starken bringt sozialen Zugewinn für alle.

Ärzte Zeitung: Und wie soll die Ihrer Ansicht nach finanziert werden?

Bender: Eine Beitragssatzerhöhung ist für uns kein Tabu. Der Pflegebedarf steigt. Wir werden eine finanzielle Reserve brauchen. Wir denken an eine kollektive Reserve in der Pflegeversicherung, nicht an individualisierte Rücklagen. Ein erweiterter Pflegebedürftigkeitsbegriff, um ein Altern in Würde überhaupt zu ermöglichen, kostet auch Geld. Wir haben dazu ein Gutachten in Auftrag geben. Das wird im Herbst fertig sein.

Das Gespräch führten Sunna Gieseke und Anno Fricke

Schlagworte:
Mehr zum Thema
Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Interview

STIKO-Chef Überla: RSV-Empfehlung kommt wohl bis Sommer

Lesetipps
Neue Hoffnung für Patienten mit Glioblastom: In zwei Pilotstudien mit zwei unterschiedlichen CAR-T-Zelltherapien blieb die Erkrankung bei einigen Patienten über mehrere Monate hinweg stabil. (Symbolbild)

© Richman Photo / stock.adobe.com

Stabile Erkrankung über sechs Monate

Erste Erfolge mit CAR-T-Zelltherapien gegen Glioblastom

Die Empfehlungen zur Erstlinientherapie eines Pankreaskarzinoms wurden um den Wirkstoff NALIRIFOX erweitert.

© Jo Panuwat D / stock.adobe.com

Umstellung auf Living Guideline

S3-Leitlinie zu Pankreaskrebs aktualisiert