Morbi-RSA: Koalition sagt Reform ab

Zündstoff Morbi-RSA: Schwarz-Gelb wollte ihn vereinfachen, doch ein Gutachten macht Minister Bahr einen Strich durch die Rechnung. Seine Reaktion: Er sagt die Reform des Kassenausgleichs ab.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Wer bekommt wie viel für welche Versicherten - eine Überlebensfrage für Kassen.

Wer bekommt wie viel für welche Versicherten - eine Überlebensfrage für Kassen.

© Felix Jork / fotolia.com

BERLIN. Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) ist eine riesige Geldverteilmaschine zwischen den Kassen: Erst fließen alle Beitragsgelder der Versicherten an den Gesundheitsfonds, dieser verteilt sie nach einem komplizierten Schlüssel wieder an die Kassen.

2009 ist der Kassenausgleich grundlegend umstrukturiert worden. Seitdem werden nicht mehr nur Alter, Geschlecht und die Einschreibung der Versicherten in ein DMP bei der Verteilung der Gelder berücksichtigt.

Der Morbi-RSA splittet die Zuweisungen an die Kassen seit 2009 präziser auf: Zu einer Grundpauschale (2009: 2227 Euro je Versichertenjahr) kommen Zu- und Abschläge hinzu.

Die Morbidität der Versicherten wird dabei anhand eines Katalogs von 80 Krankheiten abgebildet.

Der schwarz-gelben Koalition war die komplexe Geldverteilmaschine stets ein Dorn im Auge. Union und FDP formulierten in ihrer Koalitionsvereinbarung, sie wollten in der GKV ein "gerechteres, transparenteres Finanzierungssystem" - der Morbi-RSA war dabei ein Störfaktor, der "auf das notwendige Maß reduziert" werden sollte.

Das Gesundheitsministerium beauftragte eine Gruppe um den Gesundheitsökonomen Professor Jürgen Wasem mit der Untersuchung des Kassenausgleichs im Jahr 2009 -also dem ersten Jahr unter den Bedingungen des Morbi-RSA.

Doch das Ergebnis fand im Haus Bahr kein Gefallen, die Expertise blieb vier Monate lang unter Verschluss.

So technisch der Kassenausgleich sein mag - er birgt politischen Sprengstoff, da Wohl und Wehe eines fairen und funktionsfähigen Wettbewerbs zwischen den Kassen von ihm abhängt. Einige zentrale Ergebnisse des Gutachtens im Überblick:

Arbeitet der Morbi-RSA zielgenauer als sein Vorgänger?

Ja, aber mit starken Einschränkungen. Das Gutachten attestiert dem neuen Kassenausgleich, dass die Morbidität der Versicherten besser berücksichtigt wird.

Die Fachleute verteidigen ausdrücklich den Morbi-RSA gegen Kritik, er sei "zu genau", bevorteile somit Kassen mit vielen kranken Versicherten.

Die Gruppe um Wasem hat dazu verglichen, wie viel Geld für die Deckung der Krankheitskosten die Kassen nach altem Kassenausgleich und neuem Morbi-RSA bekommen.

Ergebnis: Die Kassen erhalten deutlich mehr Zuweisungen für die Versorgung schwer und chronisch Kranker. So steigt beispielsweise die Deckungsquote für Versicherte mit Typ-1-Diabetes von rund 61 Prozent (alter RSA) auf 97 Prozent (Morbi-RSA).

Nach altem Recht haben nach AOK-Angaben bei dialysepflichtigen Versicherten 28.000 Euro zur Deckung der Ausgaben gefehlt, unter Morbi-RSA-Bedingungen sind es noch 2800 Euro.

Dennoch bleiben die Zuweisungen an die Kassen bei manchen Krankheiten, die mit hoher Letalität einhergehen - wie etwa Herzinfarkt - deutlich unter 100 Prozent.

Denn für Versicherte, die im Laufe des Jahres gestorben sind, erhalten die Kassen nur die Hälfte der Ausgaben zugerechnet. Die Gutachter halten diese fehlende sogenannte Annualisierung der Ausgaben für gestorbene Versicherte für einen zentralen Webfehler.

Werden Kassen mit Versicherten benachteiligt, weil deren Leiden nicht in der Krankheitsliste des Morbi-RSA aufgeführt wird?

Nein, und das ist ein überraschendes Ergebnis. Die Gutachter geben ein Beispiel: Psoriasis gehört nicht zum Katalog der 80 Krankheiten. Doch ein Drittel der Betroffenen leiden zugleich an Hypertonie, jeder fünfte Psoriasis-Patient an Diabetes.

Durch diese Ko- und Multimorbidität erhalten die Kassen Zuschläge bei den Zuweisungen für Versicherte auch dann, wenn deren Grundleiden nicht im Katalog enthalten ist.

Werden bestimmte Typen von Kassen benachteiligt, andere bevorzugt?

Im Vorfeld war gemutmaßt worden, große Kassen mit über eine Million Versicherten würden bevorzugt. Das Gegenteil ist richtig. Im Durchschnitt weisen Kassen "mit mehr als einer Million Versicherten Unterdeckungen auf", schreiben die Gutachter.

Dagegen liegen die Zuweisungen bei kleineren Kassen oft bei über 100 Prozent. Doch die Unterschiede innerhalb der Größengruppen sind hoch, so die Gutachter.

Auch Kassen mit überdurchschnittlicher Morbidität verzeichnen tendenziell Unterdeckung, dagegen erhalten Kassen mit vielen gesunden Versicherten Zuweisungen von über 100 Prozent. Der Morbi-RSA verfehlt also sein politisches Klassenziel.

"Wir haben kein Übermaß an Risikostrukturausgleich", so das Fazit von Professor Jürgen Wasem. Für einen Abbau des Kassenausgleichs gebe es keinen Grund. Auf diese Linie ist auch das Bundesgesundheitsministerium eingeschwenkt.

Man sehe derzeit beim Morbi-RSA "keinen dringenden Handlungsbedarf", sagte eine BMG-Sprecherin. Ein neues Gutachten werde nicht in Auftrag gegeben.

Nötig sei eine "längere Beobachtungs- und Analysefrist" - der im Koalitionsvertrag anvisierte Morbi-RSA "light" wird zu den Akten gelegt.

Wie viel Geld Kassen für kranke Versicherte erhalten

Deckungsquote der Zuweisungen für einzelne Krankheiten im Jahr 2009
Krankheiten Morbi-RSA Alter RSA
inkl. Risikopool
Infektionen
Davon:
HIV/AIDS
90,96 %

99,85 %
39,24 %

30,13 %
Diabetes mellitus
Davon:
Typ 1
Typ 2
97,20 %

97,03 %
97,23 %
79,51 %

60,88 %
82,60 %
Kognitive E.
Davon:
Demenz
87,80 %

86,98 %
56,16 %

57,14 %
Psychologische E. 95,43 % 68,51 %
Neurologische E.
Davon:
Multiple Sklerose
Epilepsie
95,51 %

99,24 %
95,65 %
56,01 %

37,20 %
55,55 %
Herzerkrankungen
Davon:
Akuter Myokardinfarkt
KHK
Hypertonie
96,28 %

89,04 %
96,79 %
98,62 %
80,97 %

56,54 %
83,32 %
93,92 %
Transplantation 96,75 % 43,37 %
Quelle: Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats, Tabelle: Ärzte Zeitung

AOK hält Morbi-RSA für richtigen Schritt

Aus Sicht der AOK räumt das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats mit Vorurteilen gegen den Morbi-RSA auf. Der Ausgleich sei ein "zwingend notwendiger Bestandteil" einer wettbewerblich orientierten GKV, erklärte Jürgen Graalmann, designierter Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Doch für gesunde Versicherte erhielten die Kassen nach wie vor zu viel Geld. Daher seien "Feinjustierungen" nötig, um die - richtigen - Wettbewerbsanreize im Morbi-RSA zu stärken. Das gilt aus AOK-Sicht vor allem für die Berechnung der Zuschläge für die Versicherten, die im Laufe eines Jahres sterben.

BKK fordert Koalition zum Kurshalten auf

Der BKK Bundesverband appelliert an die Koalition, bei der Reform des Morbi-RSA "Kurs zu halten", ihn also zu verschlanken. Im Visier haben die Betriebskassen zudem die Anrechnung der Verwaltungsausgaben im Morbi-RSA. Die Gutachter haben hier dem Ministerium geraten, am Status quo festzuhalten. Tatsächlich sei ein Wettbewerb um effiziente Verwaltung nicht möglich, unnötig teure Verwaltungsstrukturen würden so zementiert, kritisiert die BKK. Reformbedarf gebe es auch beim Modell der Krankengeldzuweisungen. Hier müsse der Verdienst eines Versicherten berücksichtigt werden.

Eine Kurzgeschichte des Risikostrukturausgleichs

1992: Im Gesundheitsstruktur-Gesetz einigen sich Koalition und SPD auf mehr Wettbewerb in der GKV. Der RSA wird ab 1994 eingeführt. 2000: Der Finanzkraftausgleich gilt nun ungeteilt für Kassen in Ost und West. 2001: Morbi-RSA beschlossen, er soll ab 2007 in Kraft treten. 2005: Bundesverfassungsgericht weist Klage gegen den RSA ab. 2006: Verschiebung des Morbi-RSA auf 2009, er soll mit dem Gesundheitsfonds starten.

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