Das Kopfschütteln des muslimischen Arztes

Seit 13 Jahren beschneidet er Jungen - oft aus religiösen Gründen. Jetzt hat Kinderchirurg Dr. Hikmet Ulus die Handbremse gezogen, weil er sich strafbar machen könnte. Er hält das Beschneidungs-Urteil für einen "enormen Rückschritt", wenn nicht sogar für eine Gefahr.

Von Anja Krüger Veröffentlicht:
Betroffenen Eltern rät Dr. Hikmet Ulus, erst einmal abzuwarten.

Betroffenen Eltern rät Dr. Hikmet Ulus, erst einmal abzuwarten.

© Anja Krüger

KÖLN. Dr. Hikmet Ulus ist seit 13 Jahren niedergelassener Kinderchirurg.

In seinem Sprechzimmer hoch oben über den Dächern der Innenstadt am Kölner Neumarkt hängt eine Urkunde: Sie bezeugt die Verleihung des Verdienstkreuzes am Bande im November 2000 durch den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau.

Der Arzt hat die Auszeichnung unter anderem für sein Engagement für junge türkische Patienten im Krankenhaus bekommen.

Das Wort des Kinderchirurgen hat Gewicht - unter Pädiatern und anderen Medizinern, in der deutschen Öffentlichkeit und in den türkischen Gemeinden.

Seine Arbeit als Arzt und sein gesellschaftliches Engagement haben ihm Autorität verschafft. In seiner Praxis finden mehr als 3000 Operationen im Jahr statt.

"Etwa 30 Prozent davon sind Zirkumzisionen", sagt der Arzt, der in Deutschland und in der Türkei studiert hat. Viele davon erfolgten bislang aus religiösen Gründen.

Als in der vergangenen Woche das Urteil des Landgerichts Köln bekannt wurde, das die religiös motivierte Beschneidung für strafbar erklärt hatte, hat Ulus alle diese anstehenden Zirkumzisionen abgesagt.

Für Gläubige ein Muss

Verständnis für das Urteil hat er nicht. "Der Glaube ist wichtig für Menschen." Und für gläubige Juden und Muslime ist die Beschneidung der Söhne ein Muss.

In seiner Praxis werden Kinder unter einem Jahr nicht aus religiösen Gründen beschnitten. "Das ist meine Praxisphilosophie", sagt er. "Aber ich sage nicht: Ärzte, die das anders machen, verhalten sich unethisch."

Bislang wurden muslimische Kinder in Deutschland in der Regel von fachkundigen Ärzten beschnitten. Aber lange ist das noch nicht der Fall.

"Bis vor etwa zehn Jahren wurden Zirkumzisionen in Deutschland noch oft von Beschneidern aus der Türkei vorgenommen", sagt der Arzt. Einer hatte sogar eine Genehmigung von deutschen Behörden.

Die hatte er sich mit der Behauptung erschlichen, dass in der Türkei Zirkumzisionen von Laien ausgeführt würden. Doch das ist dort schon lange nicht mehr der Fall, sagt Ulus. "Auch kleine Städte haben eine Kinderchirurgie."

Dafür, dass hierzulande auch religiös motivierte Beschneidungen ausschließlich von Ärzten vorgenommen werden, hat er gemeinsam mit anderen Medizinern sowie Vertretern der türkischen Botschaft und der türkischen Religionsbehörde DITIB gekämpft.

Eltern werden kriminalisiert

Auch die Akzeptanz dafür, dass die Eltern den Eingriff selbst zahlen müssen, hat er gemeinsam mit anderen Ärzten durchgesetzt.

Ulus fürchtet die Rückkehr der medizinischen Laien, die wieder in Garagen, Kellern oder Küchen unsachgemäß Beschneidungen ohne Narkose und sterile Bedingungen vornehmen.

"Jetzt gibt es einen enormen Rückschritt", sagt er. Mit dem Urteil werden jüdische und muslimische Eltern kriminalisiert, die ihre Jungen aus religiösen Gründen beschneiden lassen, kritisiert er. "Ich rate den Eltern, abzuwarten", sagt er.

Der Kinderchirurg geht davon aus, dass die Politik handeln und für Rechtssicherheit sorgen wird. Für den 59-Jährigen ist es schlicht unvorstellbar, dass künftig Ärzte keine religiös motivierten Zirkumzisionen mehr vornehmen dürfen.

"Dann wären wir nicht in Europa, dann wären wir nicht Teil der zivilisierten Welt."

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