S3-Leitlinie Multimorbidität

Orientierungshilfe für Hausärzte ab Ende November

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Die DEGAM will mit einer Leitlinie für die Behandlung von multimorbiden Patienten Ärzten mehr Sicherheit geben.

Die DEGAM will mit einer Leitlinie für die Behandlung von multimorbiden Patienten Ärzten mehr Sicherheit geben.

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Multimorbide Patienten sind Alltag in Hausarztpraxen. In der Leitlinien-Welt wurde dies aber bislang kaum bedacht. Die DEGAM will nun Abhilfe schaffen.

Von Raimund Schmid

Eine Krankheit kommt selten allein. Für Hausärzte ist dieses geflügelte Zitat gelebte Praxis, Tag für Tag. 62 Prozent der GKV-Versicherten über 65 Jahre haben drei Krankheiten oder mehr, brachten Professor Martin Scherer und Dr. Hans-Otto Wagner, Direktor und Oberarzt am Institut und der Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE Hamburg, das Dilemma vieler Allgemeinärzte bei der practica 2017 in Bad Orb auf den Punkt.

Dabei werden Hausärzte ständig mit immer mehr Leitlinien sowie einem "toxischen Medikamentencocktail" konfrontiert und bleiben dabei weitgehend auf sich allein gestellt. Für Wagner ist es daher auch nicht verwunderlich, dass verschiedene Allgemeinärzte beim selben älteren multimorbiden Patienten unterschiedlich vorgehen.

Martin Scherer hat gar beobachtet, dass Multimorbidität "als Begriff in einer Hausarztpraxis eigentlich gar nicht vorkommt" und dennoch zunehmend den Praxisalltag bestimmt.

Und so könnte er aussehen, der multimorbide Modellpatient von heute: 79 Jahre alt, Osteoporose, Arthrose, Diabetes mellitus Typ II, Bluthochdruck und COPD als Hauptdiagnosen, zwölf verschiedene Medikamente pro Tag (19 Einnahmen zu verschiedenen Zeitpunkten) als Medikamentencocktail und insgesamt 24 nichtpharmakologische – insbesondere diätische und auf Bewegung ausgerichtete – Verhaltensregeln am Tag.

Hausärzte im Dilemma

Wie soll er sich verhalten, wenn er feststellt, dass sich viele Leitlinien widersprechen oder der alte Patient gar nicht mehr leitliniengerecht behandelt werden möchte? Und wie soll er mit teilweise intransparenten Medikationsplänen umgehen? Wagner: "Wenn Sie als Hausarzt im Heim sind, müssen Sie sich mitunter mit vier Medikationsplänen befassen."

Zunächst einmal können und müssen sie natürlich stets ihre gesamte Erfahrung und Intuition in die Waagschale werfen und ein individuelles Behandlungspaket schnüren. Denn das wird häufig einem multimorbiden Patienten besser gerecht als viele – auch evaluierte – eindimensionale Strategien.

Bald – und zwar noch in diesem Jahr – werden Hausärzte aber auch auf eine Leitlinie Multimorbidität zurückgreifen können, die die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) Ende November als S3 Leitlinie veröffentlichen wird.

Relevant wird die Leitlinie laut Scherer, der auch DEGAM-Vizepräsident und Sprecher der Ständigen Leitlinienkommission ist, insbesondere für die folgenden drei am häufigsten vorkommenden Morbiditätscluster: In das erste Cluster fallen kardiovaskuläre und metabolische Erkrankungen, in die zweite Rubrik neuropsychiatrische Erkrankungen und in das dritte Segment Ängste, Depressionen, somatoforme Störungen und Schmerzen.

50 Prozent der multimorbiden Männer und 50 Prozent der Frauen haben mindestens drei Erkrankungen aus mindestens einem Cluster. Mit Blick auf den jeweils individuellen Fall folgt für Scherer daraus, dass Multimorbidität in der Praxis ein ständiges Abwägen und Priorisieren erfordert, da nur so die biopsychosoziale Sichtweise zum Tragen kommen kann.

Multimorbidität in der Praxis braucht Zeit

Die neue 60 Seiten umfassende Leitlinie Multimorbidität (mit Kurzversion, Report und Patienteninformation), die die wissenschaftliche Evidenz aufbereitet und diese in praxisrelevante Empfehlungen zu übertragen versucht, soll den Hausarzt dabei nun unterstützen.

Sie umfasst neben der Definition der Folgen und Einflussfaktoren der Multimorbidität unter anderem auch die Möglichkeiten des Managements von Multimorbidität, die Potenziale einer gelungenen Kooperation mit Fachärzten und auch die Patientenperspektive. Sie soll den Hausärzten als Orientierungshilfe dienen, nicht mehr und nicht weniger, stellte Wagner in Bad Orb heraus.

Für Martin Scherer bildet die neue Leitlinie die Erkenntnisse langjährig erfahrener Allgemeinärzte im Umgang mit multimorbiden Patienten ab. Die Botschaft Scherers an die Hausärzte war in Bad Orb dann auch eindeutig: "Sie werden mit der Leitlinie nicht vieles anders machen, dafür aber mit einem besseren Gefühl."

Und eine versteckte Botschaft an die Politik enthält die Leitlinie auch: Multimorbidität in der Praxis braucht Zeit. Zeit, die der Hausarzt heute in der Regel nicht hat.

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