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Cannabis – das heiße Eisen in der Praxis

Cannabis auf Kassenkosten, da herrscht auch nach einem Jahr noch keine Routine in deutschen Arztpraxen: Verunsicherte Politiker, gespaltene Ärzteschaft und klagende Patienten. Ein Überblick über den Status Quo.

Dirk SchnackVon Dirk Schnack Veröffentlicht:
Seit einem Jahr können Ärzte Cannabis auf Kassenkosten verordnen.

Seit einem Jahr können Ärzte Cannabis auf Kassenkosten verordnen.

© Africa Studio/Stock.adobe.com

HAMBURG. Das vor rund einem Jahr in Kraft getretene Cannabis-Gesetz sorgt im Gesundheitswesen nach wie vor für Diskussionsstoff. Dem Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik in Hamburg bescherte das Thema bei seiner jüngsten, 22. Auflage einen Rekordbesuch von über 150 Teilnehmern. Die Veranstaltung zeigte die ganze Bandbreite von Erwartungen, Kritik und Respekt für den beschrittenen Weg.

"Ich bin dankbar, dass die Politik die gesetzliche Möglichkeit geschaffen hat, schwerkranken Menschen zu helfen", sagte etwa Professor Winfried Hardinghaus. Für den Palliativmediziner, Chefarzt an der Charité, steht der therapeutische Nutzen der Cannabis-Medikation – und damit die Hilfe für Patienten – im Vordergrund: "Ich möchte auf meiner Station nicht auf Cannabis verzichten müssen."

Eine der für ihn noch zu lösenden Schwächen ist die Weiterverordnung nach Entlassung von Patienten in den ambulanten Bereich. Nach seiner Beobachtung gibt es unter verordnenden niedergelassenen Kollegen noch Unsicherheiten. Er riet dazu, die angebotenen Verordnungshilfen für Ärzte anzuwenden.

Gesetz mit Schwächen

Die Unsicherheit der Verordner führt der Arzt Dr. Detlev Parow, bei der DAK Leiter der Abteilung Arznei-, Hilfsmittel und sonstige Leistungen, auf zu unkonkrete Formulierungen des Gesetzgebers zurück. "Das Gesetz ist unzureichend, es hätte präziser und klarer sein müssen", sagte er. Dies ist nach seiner Darstellung auch ein Grund für viele Antragsablehnungen durch Kassen.

Parow kritisierte auch, dass die Auswirkungen bei Verabschiedung des Gesetzes unvorhersehbar gewesen seien. Bis heute seien kaum belastbare Zahlen zu den Folgen verfügbar.

Nach seiner Hochrechnung werden mindestens 20 000 Anträge auf eine Kostenerstattung pro Jahr an die GKV gestellt, wobei nach seiner Beobachtung häufig Patienten "Treiber" der Verordnung sind. Die durchschnittlichen Jahrestherapiekosten bezifferte er auf 30 000 Euro – was von Apothekern im Publikum angezweifelt wurde.

Fakt ist: Die Kassen sind mit dem Gesetz unglücklich, auch weil die Therapieevidenz fehlt.

Der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Oliver Tolmein fragte in diesem Zusammenhang nach der Verantwortung: Als Cannabis nicht verordnungsfähig war, hätte es längst Anstrengungen in diese Richtung geben müssen. Der jetzige Zustand mit Verordnungsfähigkeit ist aus seiner Sicht zwar ein großer, aber nur ein erster Schritt nach vorn.

Überregulierung und Versorgungsengpässe

Nach seiner Beobachtung gibt es eine Überregulierung und Versorgungsengpässe. Viele Patienten, die Cannabis nicht verordnet bekommen, gehen mit juristischen Schritten dagegen vor. Tolmein berichtete von täglich mehreren Anfragen in seiner Kanzlei.

Die von ihm angemahnte Nachjustierung wird es von der Politik aber nicht sofort geben. Das stellte die CDU-Gesundheitspolitikerin Karin Maag klar. "Wir vertrauen den Ärzten und der Selbstverwaltung."

Die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion skizzierte in Hamburg das Zustandekommen des Gesetzes. Im Vordergrund habe gestanden, dass man schwerkranken Menschen etwa mit MS, Epilepsie oder chronischen Schmerzen helfen wollte. "Der Leidensdruck bei diesen Menschen ist hoch. Deshalb haben wir Verantwortung für einen Weg übernommen, der neu ist", sagte Maag. Damit spielte sie auf die auch nach ihrer Wahrnehmung "dünne Datenlage" an.

Politik unter Druck

Zugleich sah sich die Politik durch neue Rechtslagen und die kritische Frage des Eigenanbaus unter Druck, wie Maag einräumte. Unter dem Strich hält sie das Gesetz und den damit erreichten Zustand für eine "vertretbare Lösung". Im Publikum gingen die Meinungen darüber auseinander– und das quer durch die Professionen.

Auch Ärzte waren unterschiedlicher Meinung. Eine Schmerzmedizinerin vermutet, dass die Politik sich erst durch die zahlreichen Medienberichte über das Thema zu dem Gesetz hat drängen lassen. Ein anderer Arzt dagegen verurteilte die Ablehnungen durch den MDK, dem er "hanebüchene Begründungen" attestierte.

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